Ausgabe Mai / Juni 2022 | Essay

Utopienplage im Ohrensessel

Teil 2 – Vor gar nicht so langer Zeit haben viele, durchaus schon besorgte Soziologen (offensichtlich etwas leichtfertig) wie vor ihnen Philosophen und Literaten über eine bessere Welt nachgedacht. Mit guten Gründen sind einige unter ihnen bald dazu übergegangen, wenig­stens darüber nachzudenken, wie wir, die Welt, die wir schon haben, noch retten könnten. Inzwischen gefriert ihnen und uns bei solchen Gedanken womöglich das Blut in den Adern. Aber: Wir sollten weiter darüber nachdenken. Etwas anders vielleicht, aber …

Text + Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach

… wann dann? Ob es der günstigste Augenblick ist, die Arche neu zu erfinden, wenn einem – um es etwas blumig auszudrücken – eine gerade noch als Wasser erkennbare Brühe die Kiemen verklebt und ohnehin fast nur angeschwemmtes Totholz und Plastikmüll zur Verfügung stehen? Angesichts von Kriegen und Flüchtlingselend, von Hungersnöten in Afrika bis Afghanistan – von Umwelt- und Naturkatastrophen gar nicht zu sprechen – und zuletzt von skrupellosen Herrschern über die Hälfte der Menschheit, glauben allein bekiffte Misanthropen ernsthaft, daß es noch besser kommt. Ihnen könnte freilich leicht entsprochen werden! Sei es, indem eine russische Soldateska – womöglich gar aus Versehen – das Experiment „menschliches Leben auf dem Planeten Erde“ finalisierte oder zumindest ernsthaft in Frage stellte. Sei es, etwas anspruchsvoller, daß bedeutende Wissenschaftler die als „Aufklärung“ verharmloste Intelligenzexplosion (Eine ultraintelligente Maschine, die die menschliche Intelligenz weit übertrifft und nicht mehr benötigt, um noch bessere Maschinen zu bauen, was, wie bei Perry Rhodan vorhergesehen, zu einer explosionsartigen Entwicklung der Intelligenz führen würde.) neoliberal verabsolutierten. 

Googles Chefentwickler Ray Kurzweil und der auf Technikfolgen spezialisierte, schwedische, in Oxford lehrende Philosoph Nick Bostrom und andere, selten richtig ernstzunehmende (und deshalb vielleicht gefährliche) Transhumanisten hatten uns die ursprünglich von dem amerikanischen Mathematiker und Science-fiction-Autor Vernor Vinge als Singularität getarnte Intelligenzexplosion zwar erst für Mitte oder Ende des Jahrhunderts versprochen, nur öffnet uns eben jetzt schon der Oxforder Physiker David Deutsch, einer der Väter des Quantencomputers, die Augen. Nach „Abermilliarden Jahren absoluter Ödnis“, so Deutsch, gestaltet der Mensch als neue Macht, „wirkmächtig wie die Gravitation“, schon seit rund 200 Jahren, wenn auch bisher noch zurückhaltend das Universum nach seiner Fasson um. 

Geboosteter Fortschrittsglaube

Wir hätten es bloß noch nicht recht gemerkt, daß unser Gehirn „nichts anderes als ein … universeller Computer ist“, mit dem sich in den Grenzen der Gesetze der Physik (KI-unterstützt) jedes Problem lösen lasse, und zwar auch jedes Problem, das durch die Lösungen der Probleme entstehe. „Zum einen sind Probleme etwas Gutes, sie sind elementar, um uns weiterzubringen. Zum anderen gibt es Katastrophen, die wir nicht verhindern können, weil uns das dazu nötige Wissen noch fehlt. Aber Katastrophen sind nicht unausweichlich. Niemand kann uns daran hindern, das nötige Wissen zu schaffen, um sie abzuwenden.“ Der israelisch-britische Heilsphysiker, gut, das ist vielleicht etwas heftig, sagen wir: Visionär, machte es gerne zu unserem obersten Gebot, den technischen, aber „auch den moralischen, politischen und grundlegenden wissenschaftlichen Fortschritt … so schnell wie möglich (also ohne nachzudenken) voranzutreiben“ (sp-online vom 1.4.22 / vermutlich kein April-scherz) – ungeachtet all unserer Fehler. Die Folgen des Fortschritts werden uns, seiner Ansicht nach, nicht zerstören, solange wir nicht die Korrektur von Fehlern verhindern – wozu die neoliberale Staatsferne wie auch die Ablehnung eines ohnehin „unmoralischen Vorsorgeprinzips“ die probatesten Mittel seien. So gesehen, sollte das Leben wieder richtig Spaß machen. Jeder konsumiert, wie und was er will. Begründete Einwände gegen einen unbedingten Fortschrittsglauben, wie sie beispielsweise erst jüngst von dem Islamwissenschaftler Thomas Bauer (Warum die Welt nicht immer besser wird. In SZ vom 13.3.22) vorgebracht wurden, interessieren David Deutsch, den Kognitionspsychologen Steven Pinker oder unseren Lieblingstranshumanisten, den Historiker Yuval Noah Harari eher nicht. Eigentlich sollte man doch genau wissen wollen, was eine bessere Zukunft möglicherweise verhindert, welche Dinge den Bestand der Welt gefährden. Darüber war man sich sogar auf der diesjährigen TED-Conference, dem Gipfeltreffen der Zukunftsgläubigen, im kanadischen Vancouver einig. Strahlenden Optimismus vermochten da weder der mehrfache russische Schachweltmeister und inzwischen vor allem Oppositioneller Garri Kasparow noch der einstige Vizepräsident der USA, Klimaschützer und Friedensnobelpreisträger Al Gore, der sich laut SZ über die gegenwärtige Krisensituation regelrecht in einen Wutanfall hineinsteigerte, und schließlich auch nicht Bill Gates, der sein Konzept einer Seucheneingreiftruppe (GERM – Global Epidemic Response Mobilisation) vorstellte, verbreiten.

Das Individuum wird selbst zum Konsumgut

David Deutsch, übrigens auch prominenter Verfechter der Idee von Paralleluniversen, vermag jedenfalls in Interviews nicht deutlich zu machen, was er unter Fortschritt eigentlich versteht. Geschweige denn wie technischer, moralischer, politischer und grundlegend wissenschaftlicher Fortschritt sich von nicht Fortschrittlichem unterscheidet bzw. ob dies überhaupt (vermutlich nicht!) vorgesehen ist. Dafür aber springt einen die Strukturähnlichkeit seiner Thesen mit den Heilsversprechen stramm liberaler bzw. neoliberaler Wirtschaftslehren geradezu an.

Nur während etwa die Ökonomen Friedrich August von Hayek (1899–1992) oder Milton Friedman (1912–2006) – um zwei der wichtigsten zu nennen – mit ihrer Propaganda für den Konsum die Gesellschaft in ein, freilich immer noch irdisches Paradies geleiten wollen, hebt David Deutsch – allerdings unverkennbar im rhetorischen Fahrwasser dieser Edelhelfer – in die Weiten des Alls ab. Seine Visionen sind umfassender, allgemeiner, universaler. Es gibt für ihn keine Grenze des Erklärbaren; er sieht keinen Grund, warum es dem Menschen nicht grundsätzlich möglich sein sollte, in ferne Galaxien zu reisen oder ewig zu leben. Daß dies zugleich eine stimmige Konsequenz unserer kapitalistischen Konsumkultur ist, dürfte anhand der Umtriebe von Jeff Bezos (Blue Origin), Richard Branson (Virgin Orbit) und Elon Musk (SpaceX) belegt sein.

Die Deutsche Prophezeiung kommt also offensichtlich zur rechten Zeit. Zwar scheint der Neoliberalismus den Kampf um die Seelen der Menschen gewonnen zu haben; zumindest im Westen hat sich der Konsum seit geraumer Zeit zu einer identitätsstiftenden Macht (Mein Haus, meine Yacht …) entwickelt. Der „affektgeladene Geltungskonsum“ ist dabei eben „nicht mehr ein Wesensmerkmal der arbeitsfernen Oberschicht“, sondern „zum Charakteristikum der Mittelschicht, wenn nicht aller Gesellschaftsgruppen geworden“ (Philipp Lepenies, Verbot und Verzicht. S.240). Schon für den Soziologen Zygmunt Baumann sind aber die Individuen in der spätmodernen Konsumkultur, die inzwischen eine Kultur der Emotionen geworden ist, schlichtweg überfordert. Nicht nur besteht eine Ungewißheit darüber, wohin sich die Menschheit entwickeln wird, sondern fast alle Lebensbereiche, Arbeits- und Erwerbsleben, Familie, Sexualität und Partnerschaft und die Politik, haben ihre Eindeutigkeit und Klarheit verloren. Die Individuen müssen sich selbst zurechtfinden und erleben als Konsumenten ihr Elend eher in einem Übermaß, nicht etwa einem Mangel, an zu treffenden Kaufentscheidungen. „In einer postmodernen Konsumentengesellschaft verschwinden … die verbindlichen Normen. Triebfeder des Handelns ist in erster Linie die Verführung zur Befriedigung sich immer neuformierenden Konsumwünsche.“ „Sobald sich die Sehnsüchte nach bestimmten Produkten fortwährend erneuern und anpassen lassen, wird der Konsum zu einem endlosen Teufelskreis“ (Lepenies S. 233 und 234). Für Zygmunt Bauman wird das Individuum selbst zum Konsumgut.

Wandel durch Handel?

Wäre da noch die „revolutionäre Rolle der Digitalisierung“ in der spätmodernen Gesellschaft.

Das Internet, so führt der Soziologe Andreas Reckwitz (Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin 2017) aus, ist eine Affektmaschine. „Die Digitalisierung ruft Affekte hervor und nährt sie. Das gilt nicht nur für den Konsum von Gütern, sondern mittlerweile für fast alle Lebensbereiche.“ Und sie führt vor allem natürlich über die sozialen Medien zur dauerhaften Thematisierung des eigenen Konsums (die konsumgetriebene Inszenierung ist Teil dessen, was Reckwitz „Authentizitätsrevolution“ nennt), was über die algorithmengestützte Personalisierung mehr und mehr das bestätigt, was man ohnehin schon denkt (Filterblase). „Was bleibt, ist, das Netz als Mittel und Anlaß zu nehmen, die Affekte zu stimulieren, zu konsumieren und seine Emotionen grenzenlos und pausenlos auszudrücken.“ Genau das „führt jedoch oft genug zu einem leidenschaftsgetriebenen hate speech …“ 

Je deutlicher (wenn überhaupt) all dies, also das Versagen unserer Konsumkultur und erst recht, im Zusammenspiel mit der Digitalisierung, einer Öffentlichkeit wird, desto lauter wird auch eine Kritik am Neoliberalismus. Es ist nicht mehr zu übersehen, daß ein ausschließlich auf Wachstum und Profit ausgerichtetes Wirtschaften, ein geradezu rauschhafter Konsumwahn ursächlich für den gesamten Krisenstress der Erde ist; daß der von den neoliberalen Denkern verklärte Individualkonsum (das Fundament des Marktsystems), doch nicht als Grundvoraussetzung der Freiheit und Konsumprozesse eben nicht als einzig wahre Form der Demokratie taugen. Der liberale Glaubenssatz „Wandel durch Handel“ hat (wie gerade in der Ukraine vor Augen geführt) sich als so hohle wie fürchterlich grausame Formel erwiesen. Das Irre aber scheint zu sein, daß es nun gerade der, meine Identität, womöglich gar meine Besonderheit, meine Singularität ausmachende Konsum (und sei es der sogenannte „ethische“ Konsum) ist, den ich für unseren drohenden Untergang verantwortlich machen muß bzw. machen soll. Ich kann mich aus dieser Verantwortung nicht mehr herausstehlen. Es gibt keine Hintertür mehr – und in Zeiten der Seuche wohl nicht einmal Ablenkung. 

Solidarische Verantwortung für unseren Planeten

Warum das so ist, hat der Philosoph und Diskursethiker Karl-Otto Apel schon in den 1970er Jahren erklärt. „Zum ersten Mal in der menschlichen Gattungsgeschichte sind die Menschen praktisch vor die Aufgabe gestellt, die solidarische Verantwortung für die Auswirkungen ihrer Handlungen im planetarischen Maßstab zu übernehmen“ (Apel, Transformation der Philosophie, Ffm. 1976). Auch wenn man für sich allein denkt, tut man dies notwendig mit dem Anspruch intersubjektiver Gültigkeit, und zwar hinsichtlich der Wahrheit und zuvor schon des Sinns der Gedanken. Ich muß den sprachlich (gedanklich) artikulierten Sinn grundsätzlich mit anderen teilen können, kann im Prinzip also gar nicht für mich allein denken. „Und diese Differenzierung zeigt, daß wir im ernsthaften Denken bereits eine … Verantwortungsethik im Sinne der verallgemeinerten Gegenseitigkeit einer potenziell unbegrenzten Argumentationsgemeinschaft anerkannt haben.“ (Apel) 

Was allerdings offensichtlich nicht alle wissen und noch seltener zu entsprechendem Handeln führt. Ohne Anspruch auf Richtigkeit (lediglich auf eine gewisse Plausibilität) wird hier behauptet, daß sich auf Basis der obigen Ausführungen zur neoliberalen Konsumkultur und der angeführten Äußerungen von Karl-Otto Apel darüber spekulieren ließe, wie es einerseits zu einem stetigen Erstarken der Querdenkerszene und andererseits dazu kommt, daß etwa die wohlmeinenden Appelle unserer auflagenstarken Utopisten, Harald Welzer, Richard David Precht, Eckhart von Hirschhausen usw. zwar gut aufgenommen werden, aber offensichtlich kaum Wirkung zeigen. Wollten wir nämlich all deren Rettungsmaßnahmen ausführen, selbst wenn wir nur auf „kleinste Zustandsänderungen“ (Welzer) abzielten, wären wir mit nichts anderem mehr beschäftigt. Konsumverhalten geht kaum noch ohne schlechtem Gewissen und erfüllt aber gerade dann, wenn wir uns dem schlechten Gewissen ergeben, die „identitätsstiftende Funktion“ nicht mehr. Wie soll man damit leben, wenn gerade das, was mich zu etwas Besonderem (Singularität) machen soll, irgendwie für die Übel der Welt verantwortlich ist. Vielleicht indem ich so konsumiere, wie ich es gerade will, mich aber emotio-nal mit anderem unter Strom setze, und zwar so intensiv, wie es die von mir angestrebte Besonderheit eben benötigt bzw. wie intensiv ich konsumiere. Nun kommt der Konsum also nur hinzu, bestimmt aber nicht meine Besonderheit. Ich bin emotional geladen, brauche Futter, Schmuck für meine Besonderheit und merke plötzlich, daß ich etwa durch das Vertreten von z.B. absonderlichen Meinungen, Tattoos oder, wie es Erich Kästner schon in den Nachkriegsjahren für möglich hielt, durch Plissieren der eigenen Haut wie chinesischen Krepp oder eben überhaupt extre-mem Verhalten genau das erreiche bzw. von anderen erhalte, was meine Singularität bestätigt. Und zwar je mehr, je energischer (z. B. wütender) ich sie vorbringe. Und dabei ist es völlig einerlei, ob ich das Abstruse selbst mitgebracht habe oder (in einer Demo) von einem anderen übernehme. Ich muß es, wie gesagt, nur entschieden, zornig, rücksichtslos (auf mich und andere) genug zum Ausdruck bringen. Die antike Parrhesia (Das Wahrsprechen wie von dem französischen Philosophen und Soziologen Michel Foucault dargestellt) bedient sich dieser Wirkung. Verschwörungsbehaupter und Querdenker brauchen das von ihnen selbst angestachelte Feindbild, sonst bricht ihr sorgsam aufgebautes Kartenhaus zusammen. So etwa könnte es ablaufen.

Mit den nämlichen Versatzstükken ließe sich jedoch auch veranschaulichen, warum die Appelle, etwa umweltbewußt zu leben, so erfolglos sind – im Gegensatz etwa zu politischen Ideologien oder auch Religionen. Dabei ist es doch ganz einfach: Der Untergang menschlichen Lebens auf der Erde zieht sich vermutlich noch etwas hin; mit etwas Glück werden es nur meine Nachfahren erleben; ich werde kaum dafür zur Verantwortung gezogen, womöglich gelingt es sogar mit technischen Mitteln alles in den Griff zu bekommen. Ich brauche nichts zu ändern, schon gar nicht mich. Und außerdem macht das Konsumieren einfach Spaß, es sei denn, es wird alles noch teuerer.

Im dritten Teil wird
das Franken-Magazin dann
endlich die Welt retten. 

(Kleiner Scherz!)

Teil 1 findet sich hier.

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