Ausgabe März / April 2019 | Soziales

Türkisch-fränkische ­Rhapsodie

Der Türke und der Franke! Regelmäßig und doch lose verbunden wie die musikalischen Themen einer Rhapsodie. Wer jedoch glaubt, man habe erst seit den Zeiten von Wirtschaftswunder und Gastarbeitern ­miteinander zu tun, müßte eigentlich eines anderen belehrt werden. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Richten wir den Blick nur auf die vergangenen rund sechzig Jahre, durchaus mit kritischem Fokus auf manch „lieb gewonnene“ deutsche Denkfigur.

Text: Gunda Krüdener-Ackermann

„Der Islam gehört zu Deutschland.“ Im Januar 2015 erregte der damalige Bundespräsident Christian Wulff mit diesem Statement die Gemüter und setzte so eine kontroverse Diskussion in Gang. Davon unbeeindruckt trafen und treffen sich seit 1995 im Nürnberger Kulturtreff Villa Leon türkische Ruheständler. Und sie – alles Muslime – gehören ohne viel Gedöns schon seit Jahrzehnten zu Deutschland. Jeden Donnerstagvormittag haben sie einen „festen Termin“, den kaum einer von ihnen versäumt. Denn hier kann man miteinander plauschen, trinkt heißen Chai, ißt mitgebrachte türkische Köstlichkeiten. Immer wieder organisiert man auch Ausflüge, ganz im Sinne bundesrepu­blikanischer Correctness: Man fährt zum Europaparlament oder man besucht den Bayerischen Landtag.

Aber man wird hier auch über ganz praktische Belange informiert, wie Ali Güngör, der Leiter der Gruppe, wissen läßt. Etwa über die Leistungen der Pflegeversicherung. In der Beliebtheit jedoch nicht zu toppen, ist der gemeinsame Plausch über Kinder und Enkel, die fast alle in Deutschland leben. Immer wieder fiebert man auch der nächsten Reise in die alte Heimat entgegen. Aus den unterschiedlichsten Regionen der Türkei hat es die Menschen in die Frankenmetropole verschlagen. Manche kommen aus dem tief­sten Anatolien, andere sind an der Schwarzmeerküste oder den Ufern des Marmarameeres groß geworden.

Eine Art Gesinnungsreligion

Einige von ihnen sind Gastarbeiter der ersten Stunde, denn als solche sind sie ins ferne Almanya gekommen. 1961 war zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkischen Republik ein Abkommen über die Anwerbung von Gastarbeitern geschlossen worden. Damals eine Win-Win-Situation. Das deutsche Wirtschaftswunder lechzte nach Arbeitskräften, während die Türkei unter hoher Arbeitslosigkeit litt. Die meisten Gastarbeiter hatten eigentlich nur wenige Jahre geplant, sind aber für immer geblieben. Fast vierzig Männer und Frauen sitzen da donner­stags zusammen. Aber wo sind die Kopftücher? Auf Nachfrage belehrt Ali Güngör, daß die Türkei ein laizistisches Land sei, und überhaupt gehörten die Anwesenden überwiegend der muslimischen Gruppierung der Alewiten an. Bei dieser Art von Islam gehe es nicht um die rigorose Einhaltung von Riten oder einer Kleiderordnung; vielmehr seien eine Lebensführung in Bescheidenheit, Geduld und Näch­stenliebe das Wichtigste. – Aha?! Aber diese älteren Herrschaften! So lange schon in Deutschland und kaum einer spricht einigermaßen verständlich Deutsch. Will man die Erzählungen ihrer Lebensgeschichten richtig verstehen, muß Ali Güngör immer wieder als Übersetzer einspringen. Klarer Fall! Da hat es am echten Willen zur Integration gefehlt! Im Laufe der Gespräche erfährt man jedoch, daß es für diese türkischen Nürnberger nie Sprachkurse gegeben hatte, ganz abgesehen davon, daß dazu die Zeit gefehlt hatte. Man arbeitete, aß, schlief und arbeitete wieder. Bienenfleißig waren die türkischen Gastarbeiter und daher von ihren Arbeitgebern hochgeschätzt. Das wenige Deutsch, das man in der Fabrik brauchte, lernte man nebenbei. Und beim kleinen Plausch mit den Arbeitskollegen kam man auch radebrechend ganz gut zurecht. Zu Hause sprach man sowieso Türkisch. Selbst das Einkaufen wurde mit der Zeit einfacher, denn immer mehr Türken eröffneten Gemüse- und Lebensmittelläden. Und aus den Straßen und Stadtvierteln, wo türkische Familien hinzogen, verabschiedeten sich nach und nach die deutschen Nachbarn. Es gab durchaus viele Gründe, warum sich irgendwann eine türkische Parallelwelt bilden mußte. Erinnert sei hier auch an scheinbar fortschrittliche Initiativen, die im Nachhinein eigentlich kontraproduktiv waren. So warb etwa in den achtziger Jahren die Deutsche Bank mit großen Plakaten in der Nürnberger Fußgängerzone, daß ein Mitarbeiter bei allen Bankgeschäften auf Türkisch behilflich sein könne. So konnte Integration kaum gelingen!

Die Tochter ist Universitäts­dozentin

Yücel und Fatma Satilmis

Dennoch lief vor einigen Jahren wohl vieles noch besser. Höchstes Lob gibt es von den türkischen Senioren unisono für die damaligen Lehrer ihrer Kinder, die immer mit Rat und Tat zur Seite standen. „Lehrer! Viel, viel helfen!!“, beteuert Yücel Satilmis, der mit seiner Frau Fatma vor achtundvierzig Jahren nach Deutschland gekommen ist. „Tochter Professor an Universität!“, erzählt er weiter. „Schreibt Buch!“ Man mißtraut dem korrekten semantischen Gebrauch deutscher Vokabeln des Herrn Satilmis. Weiß er denn bei seinen rudimentären deutschen Sprachkenntnissen wirklich, was „Professor“ bedeutet? Er, ein einfacher Mann mit grauer Mütze auf dem Kopf, ein Teeglas in den schwieligen, abgearbeiteten Händen. Aber ein Blick ins Internet bestätigt seine Aussage. Wow! Die Tochter ist wirklich Universitäts-dozentin und hat schon einiges zum Thema Migration publiziert. Drei Kinder hat dieses Rentner-Ehepaar und alle drei haben studiert. Was für eine Lebensleistung! Und man beginnt nachzudenken: Zuerst das mit der Religion, dann das mit der Integration? Ist es nicht durchaus an der Zeit, das eigene liebgewordene Selbstbild vom weltoffenen Menschen zu korrigieren? „Was? Ich? So viele Vorurteile, so viel Schiefes im Kopf?“ Leider sieht es für die Enkelgeneration der ersten Gastarbeiter heute in der Schule weit schlechter aus. Ihre Familiennamen sind türkisch und stigmatisieren von vornherein. Sie stehen auf den Klassenlisten neben syrischen, russischen, irakischen … Alles Kinder, die in den großen Topf der Schüler mit Migrationshintergrund geworfen werden. Nicht selten finden sich in Nürnberger Klassen über Dreiviertel solcher Kinder. Wo soll eine einzelne Lehrerkraft da überhaupt anfangen? Damit gehört das „viel, viel helfen“ jetzt der Vergangenheit an. Einer offensichtlich besseren Vergangenheit, auf die die ehemaligen Gastarbeiter dennoch auch mit gemischten Gefühlen zurückblicken. Damals plötzlich allein in einer völlig fremden Welt! Das war alles andere als leicht! Bereitwillig erzählt das Ehepaar Elif und Hasan Tuluk, wie es ihnen in den ersten Jahren ergangen war. Ein Arbeitsplatz in Deutschland zerstörte schon gleich mal auf einen Schlag uralte, gewachsene Familienstrukturen. Denn es war nicht Hasan, sondern seine Frau Elif, die als erste eine Arbeitserlaubnis für Deutschland erhielt. Aufgewachsen in einem kleinen, südanatolischen Dorf, hatte Elif, eine noch immer schöne und sehr gepflegte Frau, ihren zukünftigen Ehemann ein einziges Mal gesehen.

„Viel, viel Formular ausfüllen“

Hasan und Elif Tuluk

Dann wurde geheiratet. Bald war sich das junge Paar einig, daß man sein Glück in Almanya versuchen wollte. Zwischenzeitlich, es war das Jahr 1973, der Anwerbestop für türkische Gastarbeiter. Nur für Frauen gab es noch Arbeit in Deutschland. Da fand sich dann Elif aus Südanatolien plötzlich mutterseelenallein in Nürnberg, einer deutschen Großstadt! Was für ein Kulturschock! Als türkische Frau nun mit einem Mal Zimmermädchen im Hotel Fackelmann in der Essenweinstraße. In den folgenden Jahren galt es viele Hindernisse zu überwinden – „viel, viel Formular ausfüllen“ – bis endlich Hasan und später auch die Kinder nach Deutschland kommen konnten. Frau Tuluk erzählt aus ihren Erinnerungen. In Zeiten ohne Internet erreichte sie damals höchstens ein Brief pro Woche mit Nachrichten von zu Hause. Dann ihr erstes Silvester in Nürnberg. Ein Alptraum! Das Hotel hatte über Weihnachten und Neujahr geschlossen. Man sperrte ab und mutterseelenallein saß Elif da in ihrer kleinen Kammer. Ab und zu ein Kontakt zu einer Landsmännin, die ihr durch das Fenster die eine oder andere Leckerei zusteckte. Dann in der Silvesternacht ging es los mit dem Krachen der Raketen, dem Feuer am Himmel. Keiner hatte Elif aufgeklärt. Sie dachte, da draußen sei Krieg, und in Panik verkroch sie sich unter dem Bett. Noch eine andere Episode ist ihr in bleibender Erinnerung geblieben. Damals, als sie zum ersten Mal in Deutschland krank wurde. So richtig mit hohem Fieber! Man schickte sie zum Arzt. Zurück kam sie mit einem gelben Zettel. Heute weiß sie, daß das eine Krankmeldung war. „Du mußt halt a weng langsamer tun!“ hatte die Chefin darauf gesagt. Kein Wort darüber, daß Elif gar nicht hätte arbeiten dürfen. Lachend berichtet sie weiter, ihr sei nur aufgefallen, daß die Chefin sie damals ständig mit sorgenvoller Miene beim Arbeiten beobachtet habe. Heute ist ihr klar, passieren hätte da nichts dürfen. Im Laufe der vielen Jahre haben es die Tuluks zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Sie besitzen ein Haus in der Türkei, am Strand von Mersin, den einst Marc Anton seiner angebeteten Kleopa­tra zu Füßen legte. Ein schönes Bild für dieses gemeinsam alt gewordene Ehepaar. Besonders stolz sind Elif und Hasan übrigens, daß die Enkelsöhne in der Jugendmannschaft des 1. FCN kicken.

 

Das Überwinden der ­Fremdheit

Auch Fikri Karakus, der aus Samsun an der türkischen Schwarzmeerküste stammt, hat einiges zu erzählen. Fünfundvierzig Jahre arbeitet er bereits in Deutschland. „Noch zwei Jahre bis zur Rente!“ verkündet er. Lange Zeit war er mit einer Deutschen verheiratet. Zwei Kinder hat das Paar, das heute geschieden ist. Einer der Sargnägel für diese deutsch-türkische Ehe waren wohl die fundamentalistisch-evangelischen Schwiegereltern. – Ja, sowas gibt es auch! – Nicht genug, daß das junge Paar evangelisch geheiratet, man die Kinder getauft hatte. Nein, die Söhne wurden ohne Zustimmung des Vaters auch noch konfirmiert. Der hatte sich wenigstens ausbedungen, daß die erst bei Volljährigkeit selbst entscheiden sollten … Irgendwann ging das nicht mehr, mit dieser deutsch-türkischen Ehe!

Aber Fikri hat auch Lustiges zu erzählen. Von damals, als er als junger Mann aus der Türkei kam. So mußten alle arbeitsuchenden Männer eine ärztliche Untersuchung über sich ergehen lassen. Splitterfasernackt! Viele von ihnen wären fast vor Scham im Boden versunken. Sich abtasten lassen, selbst an den intimsten Stellen. Von einem Fremden im weißen Kittel. Dann war auch noch ein Röhrchen mit Urin zu füllen. Scham und Aufregung – so konnte das mit dem Pinkeln bei vielen nicht klappen. Da hatten findige Landsmänner die Geschäfts­idee. Sie stellten sich vors Gesundheitsamt und verkauften Urin, der bereits das Testverfahren unbeanstandet durchlaufen hatte.

Eine Menge Episoden gäbe es noch zu erzählen über das gegenseitige Befremden von Deutschen / Franken und Türken, aber auch das Überwinden dieser Fremdheit. So viele Jahrzehnte des Zusammenlebens sind ins Land gezogen. – Also in Nürnberg kann man schon a weng stolz auf dieses Miteinander sein, das im großen und ganzen recht gut klappt (wenn auch, wie bei der Autorin, noch manche Baustelle im Kopf darauf wartet, abgebaut zu werden!).

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