Ausgabe Juli / August 2023 | Kritik

Was Theaterkritik leisten sollte …

Nachruf auf eine unnötige Podiumsdiskussion im Würzburger Burkardushaus

Text: Wolf-Dietrich Weissbach

Das Bühnenbild des vermutlich improvisierten Einakters „Blamage, eine Frechheit!“ („Thea­terkritik im Fokus“) im Würzburger Burkardushaus Ende Mai war sehr streng gestaltet: Stühle im Halbkreis, nur durchbrochen von Abstandshaltern für die Erfrischung – wie man das bei Podiumsdiskussionen eben so macht. Die Akteure weitgehend ungeschminkt: „nackte Masken“! Abgesehen von den hiesigen Darstellern (1). Beide kennt man in der Mainmetropole, … und vor allem nur selten gestylt. Allesamt (2) aus der angezählten Spezies der Kulturjournalisten bzw. Thea­terkritiker. Wer dächte da nicht an Luigi Pirandellos (3) „Sechs Personen suchen einen Autor“? Zumal hier wie da am Ende alles minde­stens ungeklärt bleibt. Man tut sich allerdings schwer – um nicht noch weiter nach Parallelen zu suchen, wo keine sind –, dem Moderator der Podiumsdiskussion (4) zu bescheinigen, er habe sich bemüht; möglicherweise war aber nur der Anlaß zu kraß. Das Anknüpfen an die Hundekot-Affäre um den Hannoveraner Ballettchef führte die Diskussion schon mit der Begrüßung in das dürre Geäst subjektiver Entrüstung und Betroffenheit und journalistischer Gewissenhaftigkeit und natürlich: unbedingt angeborener Unschuld. Und da blieb es bis zum Ende eben brüchig.

Natürlich wurde vieles angesprochen, sogar die Arbeitsbedingungen freiberuflicher Kulturjournalisten wie auch das prekär gewordene Geschäftsmodell der Printmedien; die für die Theaterkritik eigentlich wichtigen Fragen wurden jedoch gemieden wie Minenfelder, die in diesem Fall ungefährlich, aber erhellend gewesen wären. Und wenn schon nicht ausdrücklich, allenfalls verhalten, die Notwendigkeit der Theaterkritik, die des Theaters wurde selbstverständlich nicht in Abrede gestellt. Gewissermaßen über den Köpfen aller Anwesenden waberten in einer Wolke virtuellen Weihrauchs (wohl der Örtlichkeit geschuldet) Worte, wie sie schon einmal von der Kritikerin Christine Dössel (SZ am 6.10.2022) gedichtet waren, wonach das Theater „die livehaftigste, direkteste, aufregend­ste, allermenschlichste Kunstform ist. Weil es das Leben in so vielen Möglichkeitsformen durchspielt. Weil es alle anderen Künste in sich vereint und man es mit anderen Menschen teilt“. Theatergrößen wie Peter Brook (Der leere Raum. Berlin 1983) oder Georg Hensel (Theaterskandale und andere Anlässe zum Vergnügen. Stuttgart 1983) hätten dies vermutlich unterschrieben. Und man könnte dies wohl auch als Quintessenz des legendären Rededuells „Über Sinn und Unwert der Kritik“ zwischen August Everding (5) und Marcel Reich-Ranicki (6) bei den Erlanger Radiotagen 1990 ansehen.

Es geht um die Rettung des ­kritischen Gedankens

Der bereits erwähnte Luigi Pirandello (7) würde Dössels parakatholisches Bekenntnis wohl eher nicht teilen. Der Faschist Pirandello stellte bereits 1921 überzeugende Theaterstücke, zumindest in dem oben erwähnten Stück, grundsätzlich in Frage; allerdings könnte man ihm mit Heiner Müller (8) entgegenhalten, daß der Text ja auch klüger als der Autor sein könnte. Nur wenn das Theater die Spitze der Kunst besetzt hält, dann müßte es wohl auch – von der Kritik – entsprechend behandelt werden. Der Theaterkritiker Peter Iden meinte 1988 (9): „Es ist an der Kritik, (…), weiter zu fragen: Was will die Kunst? Was vermag das Theater? Wem ist es verpflichtet? Für wen spielt es? Worauf hat es zu reagieren? Wie könnte es reagieren, um welches Ziel zu erreichen? Es geht um die Rettung des kritischen Gedankens, um die Rettung der Kritik in der Gesellschaft generell. Das kann für das Überleben der Gesellschaft wichtig sein. Wenn es eine Notwendigkeit ist, den Anspruch zu erhalten, (…) verlagern sich naturgemäß die Akzente der Kritik von der Beschreibung des einzelnen Ereignisses weg und hin zu einem Versuch, den kulturpolitischen Kontext schärfer zu beleuchten und sich damit auseinanderzusetzen.“ (10) Zwanzig Jahre später ergänzt die Schweizer Autorin Simone Meier: „Kritik darf nie nur Kritik des ästhetischen Handwerks sein. Kritik muß eine Zeitdiagnose vornehmen, muß nach der Entfaltung und Dechiffrierung von Gegenwart in einem Stück fragen.“ (11)

Was also macht es mit dem Thea­ter und wie geht die Theaterkritik damit um, wenn immer mehr Menschen inzwischen, heute der Ansicht sind, daß unsere „Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs“ steht, wie dies der Sozialforscher Stephan Lessenich (Nicht mehr normal. Berlin 2022) ausdrückt? Wenn nichts mehr normal ist, die veröffentlichten Meinungen immer häufiger nur noch irre sind? Weist z.B. der schon praktizierte oder zumindest drohende Einsatz neuer Bewußtseinstechnik auf der Bühne, seien es Videoprojektionen oder überhaupt KI einen Weg? Müßte die Kritik nicht schleunigst danach fragen, wie sich vor allem das für das Theater auswirkt, auswirken kann? Solche Fragen, sollte man meinen, hätte die Podiumsdiskussion selbst in Würzburg bestimmen können und nicht, welcher Art von Anfeindungen Theaterkritiker außerhalb Hannovers ausgesetzt sind (Das ist zwar u.U. auch wichtig, etwa hinsichtlich der Pressefreiheit, aber zunächst nachrangig zu behandeln.); ob sie sich vorbereiten oder lieber unmittelbar, nachdem der Vorhang gefallen ist, genialisch zu kritisieren beginnen? Zumal sich der Verdacht aufdrängt, daß durch die besagte technische Aufrüstung das Theater sich beinahe grundsätzlich einer rationalen Durchdringung, dem Verstehen verstellt und sich im schlimmsten Fall hinter rauschhaften Farbexplosionen, überbordendem „Unterhaltungswert“ Ideologien und Manipulationen überhaupt nicht mehr aufgespürt werden können.

Wir verlieren den Überblick

Die bereits 2004 angestellten, diesbezüglichen Überlegungen des russisch-deutschen Philosophen Boris Groys (12) etwa klingen jedenfalls plausibel. Groys geht davon aus, daß es vom Grundsatz her zwei Modelle der Beziehung zwischen Kunstwerk und Rezipienten gibt. Im einen Modell ist das Kunstwerk (Ausstellung) statisch, immobil und der Betrachter bewegt sich; im zweiten bewegt sich das Kunstwerk (Theater/Kino) und der Betrachter ist immobilisiert. Auf jeden Fall, so Groys sinngemäß, erlaubt die Immobilität auf der einen oder anderen Seite, die Lebenszeit des Rezipienten mit der Lebenszeit des Kunstwerkes zu synchronisieren. Nur genau diese Synchronisierung wird durch moderne Inszenierungen, sei es durch Videoprojektionen im Museum, sei es durch Videoeinblendungen auf der Bühne, immer häufiger in Frage gestellt. Wir werden bzw. setzen uns selbst einer Heterosynchronizität aus; indem wir ständig zwischen der Lebenszeit auf der Bühne und jener des Videos hin und her switchen, unsere Aufmerksamkeit unentwegt in andere Räume, andere Zeiten entführt wird bzw. wir dies zulassen, wird unsere Lebenszeit und die des Kunstwerkes desynchronisiert. Nur sind wir eigentlich auf „unser“ Raum-Zeit-Kontinuum angewiesen, um uns in unserer Welt zurechtzufinden, sie zu verstehen. Nun haben wir zumindest als Zuschauer/Betrachter das Kunstwerk aber gar nicht mehr gänzlich wahrgenommen. Wir verlieren den Überblick und u.U. erzeugt diese Technik beim Betrachter sogar ein schlechtes Gewissen, weil er das Gefühl bekommt, selbstverantwortlich etwas übersehen zu haben. Boris Groys: „Die Integration des Videobildes und des Filmbildes in Kunst oder Kunstwerk ist eine Methode, sich dem Urteil des Zuschauers zu entziehen. Wenn wir uns ein Bild ansehen, das als Ganzes nicht gesehen werden kann, das durch unmögliche Synchronisierung der Zeit (gänzlich oder in wesentlichen Teilen) einfach unsichtbar wird …,“ wird der Zuschauer schlicht mit seinem Unvermögen konfrontiert, was ihm gezeigt wird, zu verstehen. Aus welchen Gründen auch immer muß die Situation dem (bleiben wir beim) Theaterbesucher derart verfahren erscheinen, daß er nicht mehr wissen kann, was er vom Theater erwarten soll, erwarten will. Was er vom Kunstwerk – vielleicht, ohne sich dessen bewußt zu sein – erwartet hat, scheint es jedenfalls nicht mehr zu geben. Das Theater droht womöglich zu einem Spielsalon, zu einer Jahrmarktsattraktion zu verkommen. (Das kann der Grund dafür sein, warum „sein Publikum“ bewährte Klassiker bevorzuge, wie Würzburgs Theaterleiter Markus Trabusch bei der Veranstaltung in einem Einwurf betonte. Was allerdings vom Podium sofort relativiert wurde. In anderen Städten sei das nicht so.) Wie auch immer: Die politische Ästhetik von Christian Enzensberger (13) z. B. legt nahe, daß im Theater ein existenzielles Sinndefizit bearbeitet werden könnte. Jeder gesellschaftliche Ort erzeugt spezifische Mängel- bzw. Sinnlosigkeitserfahrungen. Ein Sinndefizit, das im Kunstwerk, so es stimmig ist und d.h. sich jedes seiner Elemente sinnvoll auf jedes andere bezieht (und deshalb im Falle eines Bildes vom Betrachter als „schön“ angesehen werden könnte), eine allerdings ideologische Mängelplausibiliserung bietet. Das meint nicht Ideologie im Sinne von platten, politischen Behauptungen, sondern vorrangig Erklärungen, die mir als Bürger einer Gesellschaft das Zusammenleben mit anderen halbwegs erträglich gestalten, als mehr oder minder sinnvoll erweist, obwohl es sich um eine Klassengesellschaft z. B. mit einer unmenschlichen Asylpolitik oder überhaupt einer fragwürdigen Sozialpolitik handelt. Die Ideologie freilich zerbricht – wie alle Ideologie – irgendwann an der Realität und muß von Zeit zu Zeit erneuert bzw. ersetzt werden – beste Bedingungen fürs Theaterabo.

Im Theater funktionieren die Mängelplausibilisierungen natürlich anders als in Roman, Gedicht, Gemälde, Skulptur und was sonst als Kunst firmiert. Nur die Voraussetzung ist stets, daß das jeweilige Kunstwerk in seiner ganz eigenen „Sprache“, Ausdrucksform vom menschlichen Sinnesapparat und seinem Denken überhaupt erfaßbar ist. Ein Theaterstück, das sich im oben beschriebenen Sinne unsichtbar macht, hat allenfalls Unterhaltungsqualität oder befriedigt niedere Instinkte. Ein Gedicht mit unsichtbarer Tinte geschrieben, entzückt vielleicht die Götter. Eine Komposition im Reich des Ultraschalls hören gewiß die Fledermäuse; die sind natürlich auch wichtig! Insofern war die Podiumsdiskussion, bei der es eigentlich nichts zu verstehen gab, für die Anwesenden vergeudete Zeit.

(1) Michaela Schneider (freie Journalistin, gerne für das Main-Echo) und Mathias Wiedemann (Kulturchef der Main-Post)
(2) Detlef Brandenburg / Deutsche Bühne, Prof. Dorte Lena Eilers / Theaterakademie August Everding, Christoph Leibold / BR
(3) Uraufführung in Rom 1921
(4) Uwe Friedrich / Deutschlandfunk
(5) 1928 – 1999 Generalintendant der Bayerischen Staatstheater
(6) 1920 – 2013 Einer der bedeutendsten Literaturkritiker Deutschlands
(7) 1867 – 1936 Nobelpreis für Literatur 1934
(8) 1929 – 1995 Deutscher Dramatiker
(9) Geb. 1938 Theaterkritiker und bis 2000 Feuilletonchef der FR
(10) Aus: Vasco Boenisch, Krise der Kritik? Berlin 2008 Seite 37
(11) Ebenda
(12) Lettre 65 S. 58 ff (Wobei man seinen Theorien durchaus mit Vorsicht begegnen sollte.)
(13) Literatur und Interesse. Ffm 1981

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