Frankens Städtepartner

Portrait einer schwierigen Partnerschaft

Charkiw, Nürnbergs Partnerstadt in der Ukraine, ist eine Stadt voller Gegensätze. Mit Leben erfüllt wird die Partnerschaft von privaten Initiativen.

Text: Peter Schmidt

Umweltaktivisten demonstrieren gegen den Bau einer Straße durch ein Erholungsgebiet.

Ikonenbazar im Zentrum von Charkow

Erst im Mai dieses Jahres (2010) kam Charkiw wirklich in Europa an, mehr als 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Gründung eines ukrainischen Nationalstaats. Der Anschluss an das westliche Demokratieverständnis vollzog sich indessen nicht im Rathaus, auch wenn man dort eine Reihe europäischer Auszeichnungen als Ausweis vorgeblichen Fortschrittsdenkens vorweisen kann. Die neue Zeit läutete kleines Häufchen demonstrierender Umweltaktivisten ein, die sich von mit Knüppeln und Kettensägen bewaffneten Schlägertrupps  nicht einschüchtern ließen. Der Protest galt dem Bau einer 1,5 Kilometer langen Straße durch einen städtischen Erholungswald. „Es gab nur eine Genehmigung für das Fällen von 53 Bäumen, doch dann wurden fast 2000 Stämme umgesägt“, sagt Sergiy Shaparenko. Der Repräsentant des Blacksmith Instituts für mehrere Staaten in Osteuropa wittert hinter dem rigorosen Vorgehen der Stadtverwaltung, die nach seinem Dafürhalten auch die Schläger entsandt hatte,  eine planvolle Vernichtung großer Teile des 500 Hektar großen Landschaftsparks. „Es soll Platz geschaffen werden für die Luxusvillen einiger Neureicher, einschließlich Wellnesshotel und Golfplatz“, vermutet Shaparenko. Die Straße ist inzwischen fertig. „Doch der Kampf der Menschen in Charkiw um eine intakte Umwelt  und mehr Demokratie hat erst begonnen“, glaubt Alexandra Indjuchowa. Die Mitarbeiterin der Deutschen Welle Moskau dokumentierte den Widerstand der Baumschützer. Tatsächlich beherrschten in den ersten zwei Dekaden des neuen Staates  weniger die Hinwendung zu demokratischen Prinzipien als rigorose Machtkämpfe zwischen Politikern aus der alten sowjetischen Nomenklatura und einflussreichen Oligarchen die gesellschaftliche Entwicklung. Behördenwillkür und Korruption gelten auch in Charkiw als unausrottbar.

Bayern bekam die Ukraine „zugeteilt“

Die Verbindung Nürnbergs mit der 1,6 Millionen Einwohner zählenden Wissenschafts- und Industriemetropole, die russisch Charkow hieß, kam auf Drängen aus Moskau zustande. Gegen Ende der Ära von Michail Gorbatschow wurden aus dem Kreml Städtepartnerschaften mit der Bundesrepublik erwünscht. Bayern bekam die Ukraine „zugeteilt“.  Während die Hauptstadt Kiev an München ging, fiel die zweitgrößte Stadt des Landes ihrem bayerischen Pendant Nürnberg zu. Die Ehe entwickelte sich anfangs nachgerade stürmisch. Es kam zu vielfältigen kulturellen Begegnungen. Besondere Bedeutung hatte von Beginn an die soziale Hilfe und Unterstützung kranker und bedürftiger Menschen in Charkiw. Der langjährige Vizepräsident des Bezirkstags von Mittelfranken, Fritz Körber, organisierte fast von der ersten Stunde an Hilfstransporte in die gesamte Region. „Verläßliche Bande der Freundschaft wurzeln stets in der persönlichen Verbindung, dem gegenseitigen Verständnis und Vertrauen“, meint der SPD-Politiker.

Generaele bei einer Parade zum Stadtjubilaeum in Charkow

Spielplatz?

In der Tat wurde der Charkiwer Seite einiges an Vertrauen in das gewandelte Nachkriegsdeutschland abverlangt. In kaum einer anderen sowjetischen Großstadt außer Stalingrad wütete die Deutsche Wehrmacht grausamer. Charkiw wurde im Oktober 1941 von der später in Stalingrad untergegangenen 6. deutschen Armee besetzt. Der Krieg zerstörte nicht nur ganze Stadtviertel, spätere Untersuchungsberichte legten zahllose Kriegsgräuel und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Wehrmacht und SS offen. Nahezu an jedem Tag erfolgten willkürliche Erschießungen, sogar in Lazaretten mit verwundeten russischen Soldaten. Protokolle berichten von der Vergewaltigung ukrainischer Frauen durch Wehrmachtsangehörige. Die einprägsamsten Dokumente unmenschlichen Verhaltens liefern aber Fotos von Massenerhängungen Einheimischer an den Balkonen der Stadt. Fast 300 000 Zivilisten und gefangene Sowjetsoldaten kamen während der zweijährigen Besatzungszeit ums Leben. In einem stadtnahen Wald erschossen SS und Wehrmacht 20 000 jüdische Menschen aus der Region.

60 000 junge Frauen und Männer wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt.

Über diese Kapitel der Vergangenheit wird in Partnerschaftsprotokollen und Festschriften nicht mehr geredet. Die Menschen in der Stadt haben ohnedies andere Sorgen. Für Viele hat sich die materielle Situation nach zwanzig Jahren einer eigenständigen Ukraine eher verschlechtert als gebessert. Lehrer, die mit weniger als 200 Euro im Monat entlohnt werden, müssen sich mit Nebenbeschäftigungen über Wasser halten. Kaum besser bezahlte Klinikärzte fordern nicht selten für Operationen und Medikamente zusätzlich Geld von den Patienten. Die staatlichen Renten sichern nur die nötigsten Grundbedürfnisse ab. Um über die langen Wintermonate zu kommen, bearbeiten viele Städter kleine Ackerflächen an der Peripherie. Die Ernte aus Kartoffeln, Bohnen, Kohl, Tomaten, Kürbissen und sonstigem Gemüse wird im Herbst in Säcken mit der Straßenbahn und der U-Bahn in die Wohnungen geschafft und eingekocht. Briefe an die Verwandtschaft fangen dann häufig mit einer detaillierten Auflistung all dessen an, was man auf der „Datscha“ geerntet hat: „Die Kartoffeln sind heuer nicht gut geraten, aber wir haben viel Kraut und Tomaten  einmachen können, der Winter wird uns nicht besiegen.“

Picknick in Saltowka, Ortsteil von Charkow

Frühstückspause

Beine im Stadtzentrums von Charkow

Neben den Menschen mit schmalen Normaleinkommen in den riesigen mit Plattenbauten bestückten Trabantenstädten bildete sich jedoch bereits eine einkommensstärkere Mittelschicht heraus. Darüber schwebt eine zahlenmäßig kleine Klasse der Neureichen, deren äußeres Erkennungsmerkmal der aufgemotzte Geländewagen westlicher Produktion ist. Mit ihm fährt die Frau des Hauses vor der Filiale einer ausländischen Supermarktkette vor oder parkt demonstrativ verbotswidrig vor einer Boutique auf dem einzigen Prachtboulevard der Stadt, der Sumskaja.

Ganz persönliche Beziehungen zu Franken

Die wirtschaftliche Bedeutung der vor 350 Jahren als Kosakenfestung an den Steppenflüssen Lopan und Charkow gegründeten Stadt resultierte ursprünglich aus der günstigen Lage am Schnittpunkt mehrerer Handelsrouten. In seinem 1841 erschienenen Buch über „Reisen im Inneren von Russland und Polen“ schreibt Johann Georg Kohl detailliert über seinen Aufenthalt in der Handelsmetropole während der Wintermesse für Felle, Pelze, Seidenstoffe, Schmuck und andere Waren. Kohl befasste sich auch mit der auf bis zu 500 Seelen geschätzten deutschen Gemeinde in der Stadt, darunter evangelische Pfarrer aus Franken und Bierbrauer aus Bayern. „Natürlich sind es nicht immer die solidesten Deutschen, deren unruhiger Geist sie so weit verschlägt, ebenso sind es aber keineswegs die dümmsten“, urteilte der Vielgereiste. Einer der alles andere als dumm war, kam zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus Franken. Der Philosoph Johann Baptist Schad wurde  1758 in Mürsbach bei Bamberg geboren und trat 1778 als Novize ins Kloster Banz ein. Später schloss  er sich der Aufklärung an und konvertierte zum evangelischen Glauben. Nach dem Studium folgte er 1805 wie 27 andere deutsche Professoren und Dozenten einem Ruf an die gerade erst gegründete Charkiwer Universität. Er soll dort einen gelegentlich ausschweifenden Lebenswandel geführt haben.

Industrieruinen nahe des Stadtzentrums von Charkow

Als sich im Herbst 1991 eine Nürnberger Delegation aus Politikern, Kulturschaffenden und Unternehmern in Charkiw aufhielt, half der junge Germanistik- und Philosophiestudent  Wladimir Abaschnik als Dolmetscher.  Journalisten luden ihn nach Nürnberg ein. Dort fand er in der Gestalt des hierzulande fast vergessenen fränkischen Philosophen sein künftiges wissenschaftliches Arbeitsfeld. Inzwischen selbst zum Charkiwer Universitätsprofessor aufgestiegen gilt der  der bekennende Fan des 1. FC Nürnberg heute weltweit als Schad-Experte. Eine Beziehung ganz anderer Art verbindet den 86-jährigen Juristen Gottfried Miller aus dem unterfränkischen Bad Neustadt an der Saale mit Charkiw. Das Dritte Reich hatte ihn von der Schulbank weg an die Ostfront geschickt, wo er bald in Gefangenschaft geriet. Entkräftet durch Typhus und Fleckfieber kam er 1946 in einem Charkiwer Elektromotorenwerk an. Dort päppelten  Arbeiterinnen den auf 90 Pfund abgemagerten schüchternen Deutschen trotz strikter Verbote wieder auf. 1991 traf Miller einige der Frauen wieder. „Sie hatten doch selbst nicht viel, fast alle haben im Krieg jemand verloren und trotzdem haben sie mir geholfen“, sagt der Unterfranke.

Miller ist eines von 116 Mitgliedern des 1993 gegründeten Partnerschaftsvereins, dem eigentlichen Träger der Beziehungen zwischen Nürnberg und der ukrainischen Metropole. Im Nürnberger Rathaus wurden die Mittel für die Partnerschaft mit der Ukraine zuletzt fast gänzlich gestrichen. Dagegen sorgt der Verein weiter dafür, dass 130 bedürftige Menschen in Charkiw an fünf Tagen in der Woche mit warmen Mahlzeiten versorgt werden. Ein Förderzentrum betreut 140 Kinder aus einkommensschwachen Familien. Regelmäßig unterstützt der Verein Krankenhäuser, beispielsweise die städtische Kinderambulanz für Tuberkulosekranke. Herzstück der Vereinsarbeit aber ist das 1995 mit Spenden und viel Eigenhilfe von Mitgliedern eingerichtete „Nürnberger Haus“. „Die lebendigste Einrichtung in einer Partnerstadt“, urteilte der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Stadtrat, Gebhard Schönfelder,  jüngst bei einem Besuch zum 15-jährigen Jubiläum. Nürnberger Kirchengemeinden unterhalten eine ökumenische Sozialstation, die hoffnungslos Kranken im Sterben begleitet.

Einer der interessantesten Investitionsstandorte Osteuropas

„Es herrscht immer noch viel Armut trotz Reichtums für die oberen 15 Prozent und der Entstehung einer prekären Mittelschicht“, sagt Antje Rempe. Die stellvertretende Vorsitzende des Partnerschaftsvereins spricht ebenso wie der Vorsitzende Bernd Rödl von immer wieder enttäuschten Hoffnungen fränkischer Unternehmen auf erfolgreiche Projekte wirtschaftlicher Zusammenarbeit.  Dabei schätzt Rödl, Gründer einer der größten global tätigen Kanzleien für Steuerberatung und Wirtschaftsprüfung in Deutschland, die Ukraine als einen der interessantesten Investitionsstandorte Osteuropas ein. Charkiw war in den Zeiten der Sowjetunion einer der wichtigsten Rüstungsstandorte des Riesenreichs. Der legendäre Weltkriegspanzer T34 wurde hier erfunden. Panzer und Kraftwerksturbinen sind heute die bedeutendsten Exportartikel. Auch Großtraktoren lassen sich noch gut verkaufen. Dagegen liegen die Flugzeugwerften von Tupolew und Antonov seit dem Zerfall der Sowjetunion in andauernder Agonie.

Markthalle

Umso lebendiger geht es im Nürnberger Haus zu. Das deutsche Sprachzentrum zählt zu den erfolgreichsten Einrichtungen dieser Art im gesamten GUS-Raum. Die  Zertifikatsprüfung des Goethe-Instituts wurde 2009 mit Bravour bestanden. „Weltweit lagen wir auf Platz vier“, sagt Anatolij Mozgowyy, der das Haus seit seiner Gründung leitet. Derzeit laufen 17 Sprachkurse mit 300 Teilnehmern. Die Lehrmittelbibliothek wird zudem jährlich von fast 2000 externen Nutzern aufgesucht. Obwohl die monatliche Kursgebühr von 26 Euro  deutlich unter dem Preisniveau anderer privater Schulen liegt, finanziert das Nürnberger Haus seinen Etat zu 70 Prozent selbst.  Fast eine Viertelmillion Studenten an den 26 Hochschulen und 60 wissenschaftlichen Instituten machen Charkiw zu einer jungen Stadt. Seit kurzem verfügt Charkiw über eines der modernsten Fußballstadien der Welt. Ein Oligarch machte es der Stadt zum „Geschenk“ für die Fußball-Europameisterschaft 2012.

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