Ausgabe März / April 2023 | Geschichte(n)

Die Wirklichkeit hinter den ­Legenden

Ein Spaziergang durch die Nürnberger Unterwelt

Text: Ralf Arnold | Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
Unterirdisch sind Wegegabelungen irgendwie unheimlich.
Unterirdisch sind Wegegabelungen irgendwie unheimlich.

1462 hat man sich in Nürnberg erzählt, eine Frau und ein Knabe mit wahrsagerischen Fähigkeiten wüßten von einem Goldschatz im Nürnberger Burgberg. Daraufhin grub sich ein Mann namens Cuntz Rußwurm von seinem Haus an der Krämersgasse aus ein Loch in den Untergrund, um den Schatz zu heben. Er stieß dabei aber nicht auf Gold, sondern auf etwas viel Wertvolleres: Nach sechs Wochen fleißigen Arbeitens stieß er auf Wasser, denn er war bei seinen Grabungen in die Lochwasserleitung hineingebrochen, einen Stollen, den man auf einer Wasser führenden Schicht in den Fels geschlagen hatte. Der damalige Stadtbaumei­ster Endres Tucher schildert den Fall aus erster Hand, da er selbst beruflich damit befaßt war. Dieses Vorkommnis traf einen sehr sensiblen Bereich, der eigentlich größter Geheimhaltung unterlag, denn diese damals von ihm selbst schon als sehr alt bezeichneten Wasserstollen waren ein militärisches Staatsgeheimnis. Falls feindliche Spione während einer Belagerung Nürnbergs Brunnen vergiftet hätten, konnten die Nürnberger aus diesen geheimen Gängen noch Wasser schöpfen. Dennoch erlaubte Tucher den Schatzgräbern an anderer Stelle weiterzugraben, und es wurde vereinbart, daß die Schatzsucher einen Anteil des Schatzes abzugeben hätten, wenn sie denn fündig würden. Offenbar glaubten auch die städtischen Behörden, daß an dieser Geschichte vom Goldschatz durchaus etwas hätte dran sein können. Das Ergebnis dieser Schatzsuche lautete: NICHTS zu finden.

Wer sich in den Bierkellern befand, war sicher

Dabei hätten die Schatzsucher unter der Altstadt weit mehr finden können als nur Wasser. Zum Beispiel Unmengen von Bier oder Wein: Neben kilometerlangen Wassersammeltunneln gibt es riesige Bierkeller unter Nürnbergs Altstadt, die sich auf 25.000 qm (die Fläche von vier Fußballfeldern) und auf bis zu vier Sohlen (= Stockwerken) erstrecken. Am 11. November 1380 hatte der Rat der Stadt Nürnberg verfügt: „… der schenkt, es sey wein oder pier und der ein haus dorzu besteht, … soll haben einen keler zehen Schuch tieff und sechzehen schuch weit…“ Schließlich haben die Menschen im Mittelalter mehr als fünfmal so viel Bier getrunken wie wir heute. Kaffee, Kakao oder Cola kannten sie gar nicht.

Nach den bierseligen Zeiten kam es im Zweiten Weltkrieg zu einer ganz anderen Nutzung dieser Bierkeller: Sie wurden zu Bunkern umgewandelt und boten Zehntausenden Nürnbergern zusätzlich zu den modernen Standardbunkern sichere Zuflucht. Bier war dort dann nicht mehr gelagert. Am 2. Januar 1945 ging die Nürnberger Altstadt im Bombenhagel unter, aber wer sich in den Bierkellern befand, war sicher. Ganz ursprünglich als oberirdisches Bauwerk errichtet, versank ein Brotverkaufshaus im frühen 14. Jahrhundert in den Unterwelten. Der heutige Hauptmarkt war damals ein sumpfiges Gelände und von den Juden bewohnt. Die wurden 1349 umgebracht oder vertrieben und danach wurde die gesamte Gegend zur Trockenlegung eines Sumpfes um fünf Meter erhöht. Weil danach über diesem eingesunkenen Brothaus das Rathaus errichtet wurde, hat man es zu einem Gefängnis – damals noch „Loch“ genannt – umgewidmet für Häftlinge, deren Verfahren noch liefen oder die bereits zum Tode verurteilt auf ihre Hinrichtungen warten mußten.

Eine Kloschüssel für 50 Personen
Eine Kloschüssel für 50 Personen

Im Untergrund das Grauen

Ab 1532 galt reichsweit das auf den ersten Blick edelmütig klingende Rechtsprinzip „Kein Urteil ohne Geständnis“. Wie man im Mittelalter solche Geständnisse erzielen konnte, läßt sich dort unten heute noch lebhaft nachvollziehen. Neben Hinrichtungen und Körperstrafen hatte der Henker die Folter bei den Verhören durchzuführen und danach die Gepeinigten mit seinem medizinischen Fachwissen wieder aufzubauen, damit sie fit für ihre Hinrichtung wurden. Die damaligen Folterinstrumente zeugen noch heute vom Grauen im Untergrund. Da aber auch das Loch nicht ganz isoliert vom Rest der Unterwelten ist, konnte doch tatsächlich im 16. Jahrhundert ein Häftling entkommen. In den Brunnenschacht im „Loch“ mündete nämlich einer der alten Wasserstollen und speiste kostbares Naß mit ein. Einer der Gefangenen machte sich das zunutze und entkam durch den Tunnel auf Nimmerwiedersehen.

Atombunker für knapp 3.000 Menschen

Neben labyrinthischen Bierlagern, dem Schreckensort der Lochgefängnisse und den uralten Wasserstollen kann man auch kuriose Bunker in den Nürnberger Unterwelten finden, die während des sogenannten Kalten Krieges eingerichtet wurden. Dort sollten während eines atomaren Schlagabtausches der Supermächte etwa 3,4 Prozent der Nürnberger auf engstem Raum zusammengepfercht 14 Tage lang ausharren – mit einer Kloschüssel pro 50 Personen, dreimal am Tag Suppe und Tee und mit der Aussicht nach 14 Tagen wieder an die Oberfläche zu müssen, weil danach die Versorgung mit frischer Luft, Licht und Wasser nicht mehr gegeben gewesen wäre. Wie bis zu knapp 3 000 Menschen mit dieser Situation hätten fertig werden sollen – jeder hat einen halben Quadratmeter für sich und nichts anderes zu tun als 16 Stunden sitzen und 8 Stunden liegen, bis allen die Atemluft ausgeht und man dann hinauf in die verwüstete Außenwelt muß – gehört zu den Rätseln, die uns die Nürnberger Unterwelten aufgeben.

Der Kunstbunker

Wenn man während des Zweiten Weltkriegs noch einmal Schatzsuchern die Erlaubnis gegeben hätte, nach Gold zu graben, wären diese eventuell sogar tatsächlich fündig geworden, denn ab 1940 war einer der ehemaligen Bierkeller zu einem ganz speziellen Bunker umgebaut worden. Im sogenannten „Schmiedkeller“ in der Oberen Schmiedgasse wurden sechs voll klimatisierte und beheizbare Zellen eingebaut, eine Notstromversorgung, Lufttrocknung und ein Wachraum für Polizisten wurden eingerichtet, um wertvolle Kulturgüter vor den Bomben zu schützen. Neben hochwertigsten Nürnberger Kunstwerken wie dem Engelsgruß von Veit Stoß oder Dürer-Gemälden wurde auch Raubkunst wie der Krakauer Marienaltar dort aufbewahrt und – hier kommt jetzt das Gold ins Spiel – die Kronjuwelen des „Heiligen Römischen Reiches“. So gab es also doch eine Schatzkammer unter Nürnberg, gefüllt mit unermeßlich wertvollen Gegenständen.

Der Wachraum zum Kunstbunker, in dem die wertvollsten Kunstwerke eingelagert wurden, um sie vor den Bomben im Zweiten Weltkrieg zu schützen.
Der Wachraum zum Kunstbunker, in dem die wertvollsten Kunstwerke eingelagert wurden, um sie vor den Bomben im Zweiten Weltkrieg zu schützen.

Abenteuerliche Legenden

Da verwundert es wenig, wenn es noch viel mehr abenteuerliche Legenden gibt, die man sich erzählt. Zum Beispiel glauben immer noch viele daran, daß Hitler einen Geheimgang hat graben lassen, der die Kaiserburg mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände verbindet. Da die Nazis selbst ihre schlimm­sten Verbrechen genau dokumentierten, hätten sich sicherlich längst Dokumente für einen solchen Tunnel gefunden, wenn es ihn denn gegeben hätte. Einen Sinn hätte es jedenfalls nicht gehabt, einen Tunnel vom Reichsparteitagsgelände zur Kaiserburg zu bauen. Und noch eines müssen wir uns vor Augen führen, wenn wir über solche Gerüchte sprechen: Am Hauptmarkt wurde für das „Neue“ Rathaus in den 50ern eine große Baugrube ausgehoben, in der Lorenzer Altstadt wurden viele riesige Baugruben für Neubauten – allen voran für das Karstadt-Kaufhaus – ausgehoben, die U-Bahn wurde gebaut und der Hochwasserstollen in den 50ern. Bei all diesen Aushubarbeiten wurde nicht der kleinste Hinweis auf alte Stollen entdeckt, die südwärts aus der Sebalder Altstadt führen.

20 Jahre, 7 Monate und 6 Tage für 10,6 Kilometer Tunnel

Eine andere Legende besagt, daß während des Dreißigjährigen Krieges Gänge von der Kaiserburg bis zur Alten Veste in Zirndorf gegraben wurden. Der Tunnel hätte eine Länge von 10,6 Kilometern gehabt. Steinmetzen konnten in der damaligen Zeit pro Tag zwei Kubikmeter Felsgestein aus dem Untergrund schlagen. Nehmen wir an, daß man den Tunnel aus Eile nur 1,50 Meter hoch gegraben hätte. Dann wäre dabei pro Tag eine Strecke von 1,33 Metern entstanden. Es hätte 7519 Tage gedauert, diesen Tunnel zu graben. Das sind 20 Jahre, 7 Monate und 6 Tage. Zwar hat der Krieg 30 Jahre lang gedauert, aber das gilt nicht für die Belagerung Nürnbergs durch Wallenstein. Die dauerte nur etwas länger als zwei Monate. In dieser Zeit hätte solch ein Tunnel nie gegraben werden können.

Wer heutzutage diese sagenumwobenen, dunklen und außergewöhnlich stillen Orte erleben möchte, kann sie im Rahmen von Führungen täglich erkunden. Allerdings sollte man nicht unter Platzangst leiden und auch im Sommer eine Jacke mitbringen.

Wer runterging mußte irgendwann auch wieder hinauf.
Wer runterging mußte irgendwann auch wieder hinauf.

 

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