Ausgabe März / April 2024 | Interview

Interesse an Frieden – ­Vorbild für die Demokratie

750 Jahre Gegenwart einer Reichsstadt wird 2024 in Rothenburg ob der Tauber gefeiert und man merkt dem Stadtoberhaupt deutlich an, daß er auch ganz persönlich stolz darauf ist. Ein Gespräch mit dem Oberbürgermeister Dr. Markus Naser.

Text + Fotos: Wolf-Dietrich Weissbach
OB Dr. Markus Naser vor dem Alten Portal im Lichthof des Rothenburger Rathauses.
OB Dr. Markus Naser vor dem Alten Portal im Lichthof des Rothenburger Rathauses.

Herr Oberbürgermeister: Wieso feiert Rothenburg ob der Tauber eigentlich 750 Jahre Reichsstadt? Sind Ausdrücke mit „Reich“ denn nicht historisch belastet?
Dr. Markus Naser: Ja, die Gefahr besteht natürlich. Aber wir haben das Glück, daß der Begriff „Reichsstadt“ als zusammengesetztes Wort im Sprachgebrauch der Menschen nicht im Negativen wahrgenommen wird, sondern wirklich im Positiven. Vielleicht liegt es daran, daß diejenigen, die den historischen Hintergrund ohnehin nicht mehr genau kennen, weniger ans „Reich“ denken, als an das Adjektiv „reich“. Eine „Reichsstadt“ wird als eine „reiche Stadt“ interpretiert, der Begriff wird eigenständig wahrgenommen und deswegen hatten wir auch noch nie Probleme damit. Es hat noch nie irgendjemand gesagt: Wie könnt ihr … Also, da ist Gott sei Dank alles safe.

FM: … ein historischer Begriff.
Naser: Ja, ja. Es ist ein Verfassungsbegriff der frühen Neuzeit, der leider in manchen höheren Bildungsanstalten nicht mehr so vermittelt wird. Die historische Bildung als solche ist bekanntlich im Schwunde begriffen. Aber wir reden über das alte Reich, das 1803/1806 definitiv sein Ende gefunden hat. Damals fand eine umfassende Mediatisierung zur Befriedigung von Herrschaftsansprüchen statt, also die Unterordnung eines Großteils der geistlichen Herrschaften und der weltlichen Klein- und Kleinstterritorien unter die Herrschaft der größeren Reichsstände.

Was bedeutete das für Rothenburg ob der Tauber ganz konkret?
Naser: Für Rothenburg endete damit eine Ära. Über 500 Jahre, eine unglaubliche lange Zeitdauer, über 500 Jahre lang ist Rothenburg als Reichsstadt selbständig gewesen. Man durfte sich selbst verwalten, konnte eigene Gesetze machen, pflegte eine eigene Form von Außenpolitik. Natürlich im Kleinen, als Kleinstaat innerhalb des Heiligen Römischen Reiches; Rothenburg konnte sogar eigene Bündnisse eingehen. Das sind Dinge, die gingen im 19. Jahrhundert verloren. Und zwar relativ schnell. Man hat damals auch den Großteil des dazugehörigen Landgebiets verloren. Die Reichstadt Rothenburg war ja immer eine Einheit mit dem außen herumliegenden Gebiet. Rothenburg hatte 400 Quadratkilometer an eigenem Territorium, war von der Quadratkilometerzahl her unter den Top 3 im Heiligen Römischen Reich. Von diesem Territorium hat die Stadt auch gelebt. Die Haupteinnahmequelle waren landwirtschaftliche Produkte. Und wenn dann von heute auf morgen ein großer Teil des Landgebiets weg ist, ist das natürlich ein unglaublicher Einschnitt. Weshalb Rothenburg dann in der Folge massiv verarmt ist. Im Mittelalter war Rothenburg tatsächlich sehr reich. In der frühen Neuzeit schwand der Reichtum ein bißchen, die Stadt verfiel in so eine Art Dornröschenschlaf. Nach dem Dreißigjährigen Krieg ist man immer noch irgendwie über die Runden gekommen, hat sich mehr schlecht als recht über Wasser gehalten, aber es ging schon irgendwie. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts aber ging hier nichts mehr. Wir müssen uns hier wirklich eine Kleinstadt in bitterster Armut vorstellen, wenn wir über die 1820er, 1830er, 1840er Jahre reden.

Wie ist die wirtschaftliche Situation von Rothenburg heute?
Naser: Also, die Situation des städtischen Haushaltes ist schlechter als die wirtschaftliche Situation insgesamt. Rothenburg verfügt ungeachtet der Insolvenz der Firma Lechner über viele industrielle Arbeitsplätze. Viele Menschen kommen aus den umliegenden Gemeinden, den kleinen Dörfern, wo vor 100 Jahren die meisten eben noch in der Landwirtschaft tätig waren, zum Arbeiten nach Rothenburg. Die meisten landwirtschaftlichen Betriebe gibt es ja nicht mehr. Die Menschen brauchten einen anderen Job und orientierten sich hin zur nächsten Stadt und da war und ist Rothenburg mit dem großen Elektrolux-Werk mit rund 1000 Arbeitsplätzen ein Attraktor. Wirtschaftlich gesehen geht es den meisten Betrieben relativ gut. Die Stadt selber aber hat, wie schon gesagt, mit Finanzproblemen zu kämpfen.

Hat das mit dem Tourismus zu tun?
Naser: Zunächst hat das vor allem mit dem Thema Denkmalschutz zu tun. Schauen Sie sich die Struktur der Stadt Rothenburg an. Wir haben hier vier Kilometer Stadtmauer. Wir haben um die 40 mittelalterliche Türme. Wir haben Tore, wir haben Wälle, wir haben Gräben, wir haben historische Straßen, wir haben historische Brunnen, historische Brunnenleitungen. Die haben alle eines gemeinsam: Sie stehen unter Denkmalschutz. Die kosten im Unterhalt ein Heidengeld, bringen aber nichts ein – die Stadt Rothenburg ist im wahrsten Sinne des Wortes „steinreich“; wir sind reich an Steinen und diese Steine zu erhalten, kostet unglaublich viel Geld.

Aber all die alten Steine sind natürlich auch eine Attraktion für Touristen aus aller Welt. Wirkt sich die gegenwärtige weltpolitische Situation auf den Tourismus in Rothenburg ob der Tauber aus und vor allem wie?
Naser: Ja und Nein. Nein in dem Sinne, daß wir mit 532 000 Übernachtungen im Jahre 2023 wieder fast auf den Übernachtungszahlen und Besucherzahlen von vor Corona angekommen sind. Vor Corona waren es knapp über 550 000. Das haben wir fast wieder erreicht. In Franken insgesamt hatten wir aber einen neuen Rekordstand. Wir sind hier in Rothenburg traditionell unglaublich stark in den Überseemärkten. Rund dreißig Prozent aller Übernachtungsgäste kamen vor Corona aus Übersee, das ist ein unglaublicher Wert. Durch die aktuelle geopolitische Lage schaffen wir es momentan noch nicht, daß wir diesen Prozentsatz halten können. Der Anteil an Überseegästen ist deutlich geringer als vor Corona, und vor allem die Gäste aus Japan, die bei uns zwischen zwölf und fünfzehn Prozent des gesamten Gästeaufkommens ausgemacht haben, die fehlen uns noch nahezu vollständig. Wir haben deutlich mehr deutsche Gäste, deutlich mehr europäische Gäste als vorher. Bei den deutschen Gästen fahren wir jetzt schon seit zwei Jahren mit zweistelligen Zuwächsen Rekorde ein. Aber gleichzeitig fehlen uns halt noch die Überseegäste, die sich eben durch die geopolitische Lage zu Recht abschrecken lassen.

Gibt es neben dem Tourismus in Rothenburg noch andere Pläne für die Zukunft?
Naser: In der Außenwahrnehmung ist Rothenburg eine reine Tourismusstadt, dies trifft schon lange nicht mehr ausschließlich zu. Rothenburg ist sowohl Tourismusstadt als auch Gewerbe- und Industriestandort, aber auch Bildungsstadt. Das wird immer gern übersehen. Man kommt halt nicht nach Rothenburg, weil hier ein riesiges Elektrolux-Werk ist oder weil hier eine Firma Neuberger, wirklich eine absolute Vorzeigefirma, angesiedelt ist. Deswegen kommt kaum einer in die Stadt. Die Leute kommen, um sich die Altstadt anzuschauen und dann sehen sie, daß viele andere das auch machen und dann kommt so der Glaube, na ja, das ist ja hier nur Tourismus. Tatsächlich macht der Tourismus nur ungefähr dreißig Prozent unserer Wertschöpfung aus. Das bedeutet, siebzig Prozent kommen woanders her. Wir sind jetzt schon so aufgestellt, daß wir keine Monopolstellung des Tourismus haben, und das ist auch gut so. Wir wollen auch keine Monopolstellung des Tourismus. Wir haben einerseits den Block Tourismus, dann haben wir den Block Gewerbe und Industrie, und wir haben einen dritten Block: Bildung. Und gerade dieser dritte Block, Bildung, den wollen wir ausbauen. Wir haben es geschafft, daß wir in den letzten Jahren eine Außenstelle der Hochschule Ansbach hier angesiedelt haben. Es gibt einen Campus Rothenburg der Hochschule Ansbach mit zwei sehr erfolgreichen Studiengängen, es gibt hier einen Master Studiengang Digital Marketing, der höchst erfolgreich ist und deutlich mehr Bewerbungen hat, als wir überhaupt annehmen können. Der Bereich Bildung ist für uns zentral, wenn es um Zukunftsperspektiven geht. Wir wollen Leute, die unsere Altstadt schätzen und sich hier dauerhaft niederlassen. Wir kriegen in den kommenden Jahren Glasfaser bis in jedes Altstadthaus, in alle unsere historischen Gebäude. 500 Jahre alt, 600 Jahre, 700 Jahre alt: völlig egal. Jeder wird hier einen modernsten Glasfaseranschluß in seinem Haus haben können. Das bedeutet, wir werden hier unsere historischen Häuser mit modernster Technik ausstatten. Für viele Leute in der modernen Arbeitswelt ist eigentlich alles, was sie benötigen, ein Computer und ein zuverlässiger, schneller Internetanschluß. Genau diese Menschen wollen wir gezielt nach Rothenburg bringen: Wir wollen die neue Heimstätte für die digitalen Nomaden sein, besser: für diejenigen, die ihr Nomadendasein aufgeben und sich dann hier bei uns niederlassen und seßhaft werden.

Zu guter Letzt: Was kann man von einer Reichsstadt heute noch lernen?
Naser: Einfache Antwort: Über Jahrhunderte waren die Reichsstädte im Heiligen Römischen Reich praktisch die einzigen republikanischen Gemeinwesen. Es gab Ansätze demokratischer Institutionen. Hier wurde gewählt. Hier saßen die Räte zusammen und haben die Stadt gelenkt. Jetzt können wir sagen, das sind alles Selbstverständlichkeiten, weil wir das in unseren Stadträten heute noch machen. Wenn man sich aber anschaut, daß außenherum im Prinzip die Fürsten bestimmt haben, die Adeligen bestimmt haben, somit also ein völlig andere, eine feudale Struktur existierte, dann waren diese oligarchisch regierten Stadtrepubliken schon eine Besonderheit. Dort wurde über Jahrhunderte das vorbereitet, was man dann im 19. Jahrhundert zu demokratischen Institutionen ausgebaut hat. Und ich glaube, ohne diese jahrhundertelange Vorarbeit in den wichtigsten Zentren des Reiches, in den Reichsstädten, wäre dieser Übergang nicht so gelaufen, wie er gelaufen ist. Die republikanische/demokratische Tradition in diesen Reichsstädten ist wirklich höchst bemerkenswert.

Das zweite ist auch der Versuch einer friedlichen Konfliktlösung. Das beanspruchten die Reichsstädte nicht von Anfang an, die haben im Mittelalter noch ganz gern Konflikte mitausgetragen. Im Mittelalter waren die Reichsstädte nicht automatisch friedlich und nicht automatisch verhandlungsbereit, aber die komplette frühe Neuzeit hindurch haben wir den Effekt, daß sie meist verhandlungsbereit waren und auch für andere mitverhandeln wollten. Sie suchten einen Ausgleich in diesem Reichssystem, sie wollten Kriege beenden, sie setzten sich aktiv dafür ein, daß es zu keinen militärischen Auseinandersetzungen kommt. Jetzt könnte man natürlich sagen, ist ja logisch, die lebten ja hauptsächlich vom Handel, Handel in Kriegszeiten ist immer schlecht. Aber das ist nicht der einzige Grund. Da ist schon eine Struktur, die Interesse an Frieden hat im Gegensatz zu Strukturen, die Interesse an Krieg haben, und auch das ist ein Erbe der Reichsstädte.
Wir haben hier wirklich eine friedfertige Struktur, zumindest in der frühen Neuzeit, nicht im Mittelalter. Das ist ein gewichtiges Erbe, mithin sogar eine Perspektive für Europa. Das alte Reich war vor allem föderal organisiert, und die Reichsstädte waren in dieser föderalen Ordnung eben ein mäßigendes, ausgleichendes Element. Das ist das Projekt Europa heute ja auch.

Herr Oberbürgermeister, ich danke für das freundliche Gespräch.

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