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Kopf auf Distanz

Text: Wolf-Dietrich Weissbach

Kinderwitz beantwortet die Frage, warum Giraffen einen so langen Hals haben: … weil der Kopf so weit oben ist? Darüber hatte sich schon das italienische Teilzeitgenie Alberto Savinio (1891-1952) in seinem „privaten Lexikon“ (Ffm 2005) Gedanken gemacht. Selbst Maler (kaum weniger beeindruckend als sein Bruder Giorgio de Chirico), erfolgloser Musiker und furchterregend gebildeter Schriftsteller, gemahnte ihn vermutlich der Anblick liebenswerter und ziemlich stummer Giraffen (wie die auf unserem Bild aus dem Nürnberger Tiergarten) an einen Agrippianer aus der Gesta Romanorum (Kap. 175): Die „Agrippianer“ sind ein Volk bezaubernder Therianthropen (Mischwesen aus Mensch und Tier) aus menschlichem Körper, langem Kranichhals, Kranichkopf und Kranichschnabel. Ein Autor aus dem 12. Jahrhundert beschreibt die Bewohner der Insel Grippia als sehr weise und vollkommen, weil sie aufgrund ihres langen Halses ihre Worte sorgfältig abwägen, bevor sie etwas sagen. Auf Deutsch: Es dauert manchmal etwas, bis sie auf den Punkt kommen. Mitunter sagen sie nichts. Wie auch immer!

Anzunehmen ist jedenfalls, daß Savinio in den 1940ern noch nichts von Cyborgs oder synthetischer Biologie wußte, aber mit seinem mythologisch unterfütterten Gespür für den Tanz der Gene, imaginierte er schon mal eine Daseinsform für den schmerzsüchtigen Geistesmenschen, die gewähr-leisten könnte, umringt vom kopflosen Durchschnitt, sich nicht unnötig in Gefahr zu bringen. Der Kopf auf Distanz ermögliche immer am sicheren Schreibtisch und nahe bedeutender Folianten im Regal zu bleiben und wenigstens Intelligentes nachzudenken, während der oft leicht übergewichtige Rest des Kritters, der im wahrsten Sinne: Acephale, zum Einkaufen in den Supermarkt, zum Jubeln auf den Fußballplatz, Chillen auf die Alte Mainbrücke (Würzburg) oder zum Abtanzen in die Posthalle (ebd.), also ins echte Leben geschickt werden könne, dorthin, wo der Kopf nicht dringend benötigt würde.

Wäre da nun nicht 2020 im „Schlafzimmer der Sonne“ dieses Siechtum aufgestanden: die Pandemie als Zeitenbruch und womöglich letzte Chance für eine Zeitenwende!? Da war sie also wieder, die fixe Idee, das Klima und den Regenwald zu retten, den 60 Millionen Menschen in Afrika, die von einer Hungersnot bedroht sind, zu helfen, vielleicht im selben Atemzug den Krieg in Syrien beenden, die Flüchtlingskrise weltgemeinschaftlich angehen zu können … und wenn es schon nicht gleich die ganze Welt sein kann, dann halt solidarisch dem ärmeren Europa oder vor allem moralisch vertretbar in Deutschland …! Natürlich ist der einzelne nicht für alles Leid auf der Welt zuständig, das wissen dank Hartmut Rosa selbst die Gutmenschen. Dennoch: Würden nicht Verschwörungsirre, Rechtsradikale, Spökenkieker, Veganköche alle Aufmerksamkeit auf sich lenken und zugleich die Wirtschaftselite unsere Prioritäten ganz in ihrem Sinne wieder ein-norden, stünde vielleicht tatsächlich zu befürchten, daß sich etwas verändern könnte. Gemach, gemach! So weit soll es nicht kommen. Mehrwöchiger Hausarrest, selbst leidlich bewirtschaftet, vermag wohl nicht, über Jahrzehnte eingeübte Wertvorstellungen, mögen sie noch so straight auf Profit gepolt sein, zu erschüttern. Zumal die digital-induzierte Dekapitation des Wahlvolkes in den vergangenen Wochen, wenn auch nahezu apokalyptisch (was sich noch erweisen wird), gesteigert wurde.

Um nun den Anflug von Sarkasmus allmählich etwas runterzufahren: Suboptimal ist im Moment allenfalls, daß sich die staatstragenden Organe nicht besser abstimmen. Wurde in der Vergangenheit, Jahren und Wochen, wie die Münchner Philosophen Nikil Mukerji und Adriano Mannino monieren, schon nicht „auf Vorrat gedacht“, geschieht es jetzt mangels Lagerraum natürlich auch nicht. Die anvisierte Rückkehr zum status quo ante erfolgt unkoordiniert, chaotisch, unlogisch, ungerecht – keiner weiß mehr Bescheid; vermutlich wissen ohnehin immer wenigere, wie es vorher, jenseits des Oberflächlichen, wirklich war. Was bei einigen Bedenkenträgern vor allem die Ängste vor dem berühmten Präventionsparadox schürt, das zu einer neuen Infektionswelle führen könnte.

Jenseits davon gibt es Stimmen, die grundsätzlich bezweifeln, daß das Potpourri aus staatlichem Urlaubsgeld, Geisterspielen, Milliarden für die Lufthansa, wochenlanger Wartezeit für die Bearbeitung von Anträgen auf Soforthilfe, Finanzierung von Besucherschleusen in Kultureinrichtungen – irgendwann wird herauskommen, daß auch kriminelle Vereinigungen im großen Stil Corona-Hilfe erhielten – und dergleichen mehr sich wie eine vertrauensbildende Maßnahme anhört. All das verunsichert inzwischen auch jene, die die Corona-Maßnahmen, vom Lockdown bis zum Social distancing, grundsätzlich als Gebote der Vernunft ansehen, die womöglich, obwohl sie vielleicht sogar massiv unter einigen aberwitzigen Regelungen zu leiden hatten, sich nicht auf die Seite der Wutbürger begeben haben.  All das verunsichert auch jene, die sich einfach nur „anständig“, im Sinne von Gemeinwohl und Mitmenschlichkeit (Ivanhoe, Lassie, Flipper, Fury bis hin zu Pater Brown und vor allem Hercule Poirot) verhalten haben. Deren Vertrauen in die Politik wird gegenwärtig auf eine harte Probe gestellt. Das aber wäre nun vorrangig zu festigen bzw. wiederherzustellen.

Das gelänge jedoch nur, wenn staatliche Maßnahmen, politische Forderungen sich an, in der breiten Öffentlichkeit einsichtigen moralischen, sozialen Wertmaßstäben – durchaus auch an vernünftigen volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten – orientierten. Hilfen für Unternehmen, die dann Dividenden ausschütten, selbst wenn es dafür rationale Gründe geben sollte, gehören – das wurde schon wiederholt gesagt – nicht dazu. Sowenig wie die vorrangige, sei es finanzielle oder öffentlichkeitswirksam ideelle Unterstützung von Veranstaltungsformen, die hauptsächlich einer Unterhaltungskultur  angehören. Natürlich soll es wieder Konzerte von Klassik bis Rock geben. Theatervorstellungen, Lesungen, Kino, auch die Gastronomie, all das soll und muß es geben. Und doch fällt es schwer, nicht zuletzt, wenn die Gelder langsam knapp werden, Hilfen für eine Unterhaltungskultur mit fließendem Übergang zur Spaßkultur, so sehr sie das gesellschaftliche Leben bunt gestaltet, dem sog. gesunden Menschenverstand einsichtig zu machen. Alternativlos wäre das nur, wenn ein Nach-Corona wirklich wünschenswert sein sollte, das sich vom Vorher nicht sehr unterschiede. Und genau das wird es nach ziemlich einhelliger Meinung aller Fachleute nicht geben. Nur dann aber wäre das kleinkarierte Aufrechnen, der darf, was ich nicht darf, der bekommt, was ich nicht bekomme, noch irgendwie verständlich. Und verrückterweise befinden wir uns bereits auf bestem Wege zu diesem Hauen und Stechen.

Für den – wie gesagt – wahrscheinlichen Fall, daß die Pandemie noch lange nicht vorbei sein wird, daß die Folgen für das gesellschaftliche und soziale Leben sehr einschneidend und für viele katastrophal sein werden, wäre es nun doch ratsam, auf der Grundlage jeweils zu diskutierender Wertmaßstäbe darüber nachzudenken, was wo wie geändert werden könnte und müßte. Brisante Fragen drängen sich im Moment genug auf: Sollen aus wirtschaftlichen Erwägungen Klimaziele etwa in der Autoindustrie aufgeschoben/aufgegeben werden? Was können wir tun, um die vollständige Zerstörung des südamerikanischen Regenwaldes noch abzuwenden? Wie lassen sich die Zustände in Schlachtbetrieben verändern? Wie läßt sich das Konsumverhalten, wie lassen sich die Ernährungsgewohnheiten der Bürger verändern? Wie können wir (als Gemeinschaft) die schlimmsten Auswirkungen von Arbeitslosigkeit, wie existenzieller Not bis hin zur Kinderarmut in den Griff bekommen? Oder: Was sollen wir tun, wenn die Infektionszahlen wieder deutlich ansteigen? Etwa dem Philosophen Nida-Rümelin folgen und Gesundheit und Leben weitgehend der Selbstverantwortung des einzelnen überlassen? Auch wenn es etwas verkürzt sein mag, aber das unterschiede sich nur geringfügig von der Politik eines Trump oder Bolsonaro. Es ist einfach zynisch, der Selbstverantwortung des einzelnen eine derart prominente Position zuzuschreiben, wenn auf der anderen Seite eine ganze Industrie permanent daran arbeitet, dem einzelnen die Verantwortung für sich selbst algorithmisch und vor allem möglichst gewinnträchtig abzunehmen oder der einzelne in eine Situation gezwungen ist, in der er diese Selbst-verantwortung gar nicht übernehmen kann. (Im extremsten Fall als ausländischer Arbeitnehmer auf dem Bau oder in Schlachtereien.)

Selbst im Homeoffice gelangt man schnell von den großen, überregionalen Themen zu den lokalen, ganz konkreten Fragen und Problemen an den örtlichen Schulen, in der städtischen Verkehrspolitik, den lokalen Medien, zu Kunst und Kultur vor Ort. Und es geht dabei nicht darum (sollte es jedenfalls nicht), etwas zu verbieten oder den Spaß zu verderben, sondern es geht um neue gesellschaftliche Vereinbarungen. Also: Wer unbedingt in den Süden fliegen will, soll dies tun können – nur gibt es eben keine Billigflieger mehr. Wer unbedingt täglich Fleisch essen will, kann dies tun – nur ist das Fleisch eben fünf- oder zehnmal so teuer, wie noch gegenwärtig. Wer unbedingt mit dem Auto in die Stadt fahren will, muß eben gute Gründe haben. Usw.! Allerdings muß man all das so regeln, daß es nicht unbotmäßig die soziale Frage verschärft. Jedenfalls erscheint es sehr unwahrscheinlich, daß ein bis vor kurzem die Massen halbwegs zufriedenstellender Konsum und die sich ständig vergrößernde Kluft zwischen arm und reich nichts miteinander zu tun haben sollen. Man muß vielleicht etwas um die Ecke denken: Es sollte eigentlich möglich sein. Jetzt müßte diskutiert werden, was für den Erhalt einer demokratischen Gesellschaft unbedingt erforderlich ist, was nicht bzw. nicht unbedingt, was für den sozialen Zusammenhalt, für Leben und Gesundheit und Glück der Menschen, der Bürger unverzichtbare Voraussetzungen sind, statt sich um die Zukunft der Bundesliga und die Millionengehälter der Topspieler zu sorgen. Wir wissen es alle! Es geht um Konsum, Frieden, Umwelt, soziale Gerechtigkeit, Kultur. Und es geht immer um unsere Demokratie, den besten Staat, den es auf deutschen Boden je gab. Es müssen für all diese Fragen Lösungen gefunden werden. Wir könnten natürlich auch schon mal alle unser Testament machen und uns als Alleinerben einsetzen.

Obwohl, in puncto Kultur könnte man den Eindruck gewinnen, die Politik habe ihre Bedeutung erkannt. Freilich auch hier wäre zu diskutieren, ob wirklich Unterhaltung die vornehmste Aufgabe von Kultur sein muß. Ob nicht Museen, Theater, Bibliotheken, Ausstellungen, Lesungen, und vor allem all jene kulturellen Aktivitäten, die zumindest zunächst nicht direkt im Licht der Öffentlichkeit stehen und nicht entstehen können und die sich oft auch kaum über Eintrittsgelder finanzieren können, nicht größere Wertschätzung verdienten. Wer sich in einer Situation, in der viele Menschen um ihre Existenz kämpfen, denen mitunter das ganz Leben zusammenbricht, vergnügen will und kann, der sollte dafür auch selbst aufkommen. Wie umgekehrt Kulturschaffende ihre Bedeutung, ihre kulturelle Bedeutung für die Gemeinschaft zumindest insoweit ausweisen sollten, ob sie nicht nur Unterhaltungswert haben. Anderenfalls können nämlich auch Spielhallen und Bordelle als kulturelle Einrichtungen durchgehen. Nichts dagegen, daß es sie gibt, nur sollten die Politiker unseres Vertrauens nachvollziehbare Kriterien haben, was sie unterstützen.

Die jetzt eingeführte Regelung, alle „Kulturschaffenden“ (aufgrund der Begriffsgeschichte sollte man wohl besser von „kulturell Schaffenden“ sprechen, nur wäre das auch nicht richtig) und nicht nur diejenigen, die über die Künstlersozialkasse (KSK) versichert sind, für drei Monate mit je 1000 € zu unterstützen, ist grundsätzlich nicht abzulehnen. Allerdings hat dies, so wie es jetzt vollzogen wird, nur wenig mit Unterstützung der Kultur zu tun. Es wird dies nämlich in hohem Maße denjenigen zugute kommen, die etwa im Veranstaltungsbusiness die ja durchaus wichtigen Hilfstätigkeiten ausführen, im Endeffekt der Spaßkultur. Natürlich kann man diese Menschen nicht verhungern lassen. Insofern ist alles in Ordnung. Nur das Etikett ist falsch. Und das ist keineswegs Haarspalterei. Von der jetzigen Regelung profitieren direkt und indirekt vor allem die Veranstalter von Events, wenn man boshaft ist: Krämer und Manager. Hätten die jedoch ihre Mitarbeiter (vor der Pandemie) ordnungsgemäß angestellt und nicht immer nur zu bestimmten Anlässen angeheuert, könnten die nun z.B. Kurzarbeitergeld beziehen. Vielleicht wären die Gagen für die Stars etwas magerer ausgefallen. Die „Künstlerhilfe Corona“ wirft nun alle in einen Topf und macht keinen Unterschied, ob jemand Eintrittskarten kontrolliert, Stühle aufstellt oder monatelang an einer Skulptur, einer Partitur oder einem Roman feilt.

Das mag sich sehr demokratisch (ja schon beinahe sozialistisch) anhören, ist es aber nicht. Vor allem aber wäre die ursprüngliche Lösung auch ehrlicher gewesen. Diejenigen nämlich, die tatsächlich kulturelle Leistungen vollbringen, sind zum größten Teil (es gibt ein paar Ausnahmen, etwa anderweitig abgesicherte oder überhaupt begüterte kulturell Schaffende) wirklich in der KSK versichert – gegenwärtig wohl etwas über 60 000. Nun sollte man jedoch wissen, daß sich von dieser Personengruppe schon vor der Pandemie nur ein geringer Teil von der eigenen, künstlerischen Tätigkeit ernähren konnte; pessimistische Zahlen bewegen sich bei zehn bis zwanzig Prozent. Der größte Teil lebte und lebt von Ehepartnern oder zusätzlichen Jobs oder Bezügen als Lehrkraft oder …. Vermutlich „erwirtschaften“ nun viele tatsächlich kulturell Schaffenden erstmals 1000 € im Monat „mit“ ihrer künstlerischen Tätigkeit. Man kann das mit einem lachenden und einem weinenden Auge betrachten. Man wird die Beschränkungen – ob vernünftig oder nicht – in Kürze aufheben, die Veranstaltungen (ein bißchen Spaß muß sein) werden mit kaum eingehaltenen Abstandsreglungen wieder stattfinden; die Corona-Hilfe wird auslaufen, die meisten Künstler und Künstlerinnen werden wieder von ihren Ehepartnern oder vom Kellnern oder Taxifahren oder Stadtführungen leben, und die Politik wird sich ans Revers heften, die Kultur vor dem Absturz in Werweißwas gerettet zu haben. Eine weitere Gelegenheit, nachhaltiger über Kultur und Kulturförderung nachzudenken, vertan!

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