Ausgabe Juli / August 2025 | Geschichte(n)

Ein Schloss wird zum Medienzentrum

Text: Emilia Gerstel | Fotos: Archiv Faber-Castell
Das Schloss Faber-Castell in Stein und die dazugehörigen Gebäude wurden während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse ab 1945 als Press Camp genutzt.
Das Schloss Faber-Castell in Stein und die dazugehörigen Gebäude wurden während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse ab 1945 als Press Camp genutzt.

Die Liste der Namen liest sich wie das „Who is Who“ der Medien- und Kulturszene des 20. Jahrhunderts: Erika Mann, Rebecca West, Martha Gellhorn, Janet Flanner, John Dos Passos, William Shirer, Erich Kästner, Willy Brandt, Markus Wolf, Boris Polewoi, Nikolai Schukow und Ray D’Addario. Diese herausragenden Schriftsteller und Schriftstellerinnen, Reporter und Kriegsreporterinnen sowie Zeichner und Fotografen verwandelten die Stadt Stein in ein mondänes Medienzentrum.

Als vor 80 Jahren der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher begann, richtete die Welt ihren Blick auf Franken. Der von November 1945 bis Oktober 1946 dauernde Prozess und die anschließenden Nachfolgeprozesse wurden zu einem Medienereignis, das Journalistinnen und Journalisten sowie Intellektuelle aus aller Welt anzog. Die meisten von ihnen wurden im von den Alliierten zum Press Camp umgestalteten „Bleistiftschloss“ der Familie von Faber-Castell untergebracht. Vor allem während der Höhepunkte des Hauptkriegsverbrecherprozesses – etwa zur Eröffnung und Urteilsverkündung – lebten in Stein über hundert Berichterstattende: Die männlichen Reporter aus dem Westen im Alten und im Neuen Schloss, die Frauen in der Villa und die sowjetischen Medienvertreter aufgrund der Nichtverbrüderungspolitik der UdSSR im sogenannten „Russian Palace“ in der Bahnhofstraße.

Die internationale Mediengemeinschaft traf sich zu Mahlzeiten u.a. im ehemaligen Ballsaal, den die Amerikaner „Empire Room“ nannten.
Die internationale Mediengemeinschaft traf sich zu Mahlzeiten u.a. im ehemaligen Ballsaal, den die Amerikaner „Empire Room“ nannten. Foto: National Archives/Washington

Toreinfahrt zum IMT Press Camp
Toreinfahrt zum IMT Press Camp. Foto: National Archives/Washington

Die Unterbringung einer so großen Zahl an Personen unter einem Dach stellte die Alliierten vor große Herausforderungen. Die geräumigen Gebäude aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert waren nicht für so viele Bewohner ausgelegt und die Zimmer mussten zu Schlafsälen mit acht bis zehn Betten umgebaut werden. Die britische Schriftstellerin Rebecca West kritisierte im Press Camp insbesondere den Mangel an Privatsphäre: „Es gab im gesamten Schloss keinen Ort, an dem man allein sein konnte.“ Auch die fehlenden Sanitäranlagen, die unzureichenden hygienischen Bedingungen sowie die vitamin- und geschmacklose „Büchsenkost“ wurden von der Gemeinde des Press Camps bemängelt.

Trotz Sprachbarrieren fand ein reger Austausch unter den Bewohnern des Press Camps statt, sei es während der Mahlzeiten, beim Tischtennis oder Schachspielen oder an der Bar. Zu besonderen Anlässen wie dem Burns Supper, einer Feier zu Ehren des schottischen Dichters Robert Burns, füllten sich die Räume des Schlosses mit zahlreichen Gästen. Diese Abende boten eine willkommene Abwechslung vom Alltag, der stark vom Prozessgeschehen geprägt war. Für einen Hauch von Normalität sorgte Major Ernest Cecil Deane, der als Kommandant und „guter Geist“ im Schloss agierte. Im Jahr 1945 organisierte er eine kleine Weihnachtsfeier für Kinder aus einem Displaced-Person-Lager, an der sich die Gemeinschaft des Presse-Camps beteiligte.

Während der Nutzung als Press Camp befand sich im Foyer des Treppenhauses die Rezeption.
Während der Nutzung als Press Camp befand sich im Foyer des Treppenhauses die Rezeption. Foto: National Archives/Washington

Noch während des Hauptkriegsverbrecherprozesses verbesserten sich die Lebensstandards im Press Camp. Später bot das Schloss auch Raum für weitere Prozessbeteiligte. Zu diesen gehörte Wolfgang Hildesheimer, der 1947 als Simultandolmetscher am Gerichtshof arbeitete und später durch sein Buch „Mozart” bekannt wurde. Er genoss sein mit einem Radio ausgestattetes „Riesenzimmer“ und das ausgezeichnete Essen.

Nach der Abreise der Gäste im Jahr 1949 zog ein amerikanischer Offiziersklub ins Schloss ein, der bis 1953 dort blieb. 1986 wurde das Schloss wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Nach umfangreichen Restaurierungen erstrahlt es heute in altem Glanz.

In der im 19. Jahrhundert errichteten Villa übernachteten die Journalistinnen.
In der im 19. Jahrhundert errichteten Villa übernachteten die Journalistinnen. Foto: National Archives/Washington

Das Louis-Seize-Zimmer im Neuen Schloss wurde zum provisorischen Großschlafsaal.
Das Louis-Seize-Zimmer im Neuen Schloss wurde zum provisorischen Großschlafsaal. Foto: National Archives/Washington

Im Gobelinsaal des Neuen Schlosses wurde Geschichte geschrieben.
Im Gobelinsaal des Neuen Schlosses wurde Geschichte geschrieben. Foto: National Archives/Washington

Das Press Camp in Stein war einzigartig: Noch nie zuvor hatten sich an einem Ort so viele internationale Medienvertreter zu einem historischen Ereignis versammelt. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten und suboptimaler Lebensbedingungen wuchs die Gemeinschaft zusammen. Bei seiner Abreise im Jahr 1946 schrieb der sowjetische Schriftsteller, Boris Polewoi, dass der Abschied herzlich ausfiel – trotz aller Unterschiede seien sie „neun Monate gut miteinander ausgekommen”.

Damit bleibt das Schloss der Familie von Faber-Castell ein bedeutendes Symbol für die journalistische Berichterstattung über die Nürnberger Prozesse – ein Ort, an dem Geschichte geschrieben und erlebt wurde.

Zu den bevorzugten Freizeitbeschäftigungen der Berichterstattenden zählte das Schachspielen
Zu den bevorzugten Freizeitbeschäftigungen der Berichterstattenden zählte das Schachspielen. Foto: National Archives/Washington

Faber-Castell Erleben
Das Graf von Faber-Castell’sche Schloss, das Museum „Alte Mine“ und die moderne Fertigung „Holzgefasste Stifte“ können im Rahmen einer Führung besichtigt werden.
Die Buchungen sind unter Faber-Castell Erleben (www.faber-castell.de/corporate/faber-castell-erleben) möglich.

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