Ausgabe Juli / August 2025 | Soziales

Wo Würde beginnt

170 Jahre Oberzeller Franziskanerinnen in Würzburg – Mitte des 19. Jahrhunderts: Im Würzburger Stadtteil Zellerau, wo heute das Jugendkulturhaus Cairo junge Menschen fördert, war einst ein Frauengefängnis untergebracht. Frauen, die hier landeten, verloren draußen jede Chance: von der Gesellschaft ausgestoßen, keine Arbeit, kein Zuhause, keine Würde.

Text: Anja Mayer | Fotos: Daniel Peter
Luftaufnahme von Kloster Oberzell bei Würzburg
Luftaufnahme von Kloster Oberzell bei Würzburg

Als 1869 ein Blitz in das Würzburger Frauengefängnis einschlug, halfen die Inhaftierten, das Feuer zu löschen. Problemlos hätten sie fliehen können, aber sie blieben. Sie schlugen sogar das Angebot einer Haftminderung aus. Die Frauen wussten: in der „Freiheit“ wartet nichts auf sie – außer Ausgrenzung. Es war genau diese Art von Not und Perspektivlosigkeit, die Antonia Werr im Blick hatte. 1869 war sie zwar bereits verstorben, aber ihr Einsatz für ausgegrenzte Frauen lebte in ihrer Gemeinschaft weiter und legte den Grundstein für etwas, das heute seit 170 Jahren besteht.

Die Oberzeller Franziskanerinnen, gegründet 1855 von Antonia Werr, tragen seither ihren Auftrag durch die Zeit: Frauen und Mädchen in Not beizustehen.

Was als „Rettungsanstalt für strafentlassene und verwahrloste Personen des weiblichen Geschlechts“ begann, war schon damals mehr als eine karitative Einrichtung. Denn Antonia Werr sah, was andere übersahen – die unzerstörbare Würde im zerschlagenen Leben. „Solchen, auf dem Strome des Lebens Gescheiterten eine rettende Hand reichen zu können“, schrieb sie in einem Brief, sei „eine herrliche, wenn auch höchst schwierige Aufgabe“.

In Kinderheim und Kindergarten mitten auf dem afrikanischen Land schenken die Schwestern ausgesetzten und ­vernachlässigten Kindern ein Zuhause und leisten damit in der armen und strukturschwachen Gegend rund um Mbongolwane (Südafrika) wichtige Arbeit.
In Kinderheim und Kindergarten mitten auf dem afrikanischen Land schenken die Schwestern ausgesetzten und ­vernachlässigten Kindern ein Zuhause und leisten damit in der armen und strukturschwachen Gegend rund um Mbongolwane (Südafrika) wichtige Arbeit.
In der Klosterkirche in Oberzell erinnert eine Statue von Antonia Werr an die Ordensgründerin, die sich schon im 19. Jahrhundert für Mädchen und Frauen in Not einsetzte.
In der Klosterkirche in Oberzell erinnert eine Statue von Antonia Werr an die Ordensgründerin, die sich schon im 19. Jahrhundert für Mädchen und Frauen in Not einsetzte.

Der Mut, anders zu dienen

In einer Zeit, in der Frauen rechtlos waren, Gewalt in der Ehe als normal galt und weibliche Armut oft in Prostitution mündete, war das Engagement von Antonia Werr ein Tabubruch. Sie nahm sich nicht nur den Frauen an, sondern lebte mit ihnen unter einem Dach. Die Motivation dazu entsprang ihrem tiefen Glauben, dass Gott in Jesus Mensch geworden ist. Weihnachten besitzt für die Oberzeller Schwestern deshalb seit jeher eine ganz besondere Bedeutung. Für die Schwestern ist Gott nicht fern oder unnahbar. Er kam als kleines, schwaches und verwundbares Kind zur Welt. Jesus nahm das Leben in seiner ganzen Tiefe an und wurde in seiner Verwundbarkeit und Liebe ganz Mensch. Das erklärt auch den für heutige Verhältnisse sperrig klingenden Namen, den Antonia Werr damals ihrer Gemeinschaft gab: Offiziell trägt die Kongregation den Namen Dienerinnen der heiligen Kindheit Jesu. Übrigens wuchs die Gemeinschaft in ihren ersten knapp 100 Jahren stetig: Bis 1931 beispielsweise lebten mehr als 900 Schwestern in über 100 Filialen.

Der Auftrag ihrer Gründerin inspiriert die Oberzeller Schwestern, empfindsam zu bleiben für das Leid der Menschen und solidarisch an ihrer Seite zu stehen. Das gilt nach wie vor ganz besonders für jene, deren Würde bedroht ist: Menschen, die in prekären Verhältnissen leben, Gewalt erfahren haben oder auf der Flucht sind. In jedem Menschen sehen sie ein Kind Gottes: einzigartig, wertvoll und geliebt. Knapp 100 Ordensschwestern und etwa 300 Mitarbeiter:innen halten heute diesen Sendungsauftrag lebendig.

Zum Beispiel in der Antonia-Werr-Zentrum GmbH im Land­kreis Schweinfurt: In der heilpädagogisch-therapeutischen Einrichtung der Jugendhilfe werden Mädchen und junge Frauen begleitet, die aufgrund einer belastenden familiären Situation, psychischer Schwierigkeiten, traumatisierenden Erfahrungen (wie massiver Gewalt oder sexuellem Missbrauch) mit sich und ihrem Umfeld nicht mehr zurecht kommen und dringend Hilfe brauchen. In therapeutischen Wohngruppen, mit Schule und eigenen Ausbildungsbetrieben finden sie wieder Vertrauenspersonen, können Beziehungen aufbauen und einen Neubeginn starten.

Das prächtige Treppenhaus im Eingangsbereich des barocken Klosterbaus mit Stuckaturen von Antonio Bossi.
Das prächtige Treppenhaus im Eingangsbereich des barocken Klosterbaus mit Stuckaturen von Antonio Bossi.

Über Kontinente hinweg

Dass der Einsatz für Gerechtigkeit keine Grenzen kennt, zeigt sich in Südafrika: Seit 1951 sind die Oberzeller Franziskanerinnen dort aktiv, unterstützen die Ärmsten der Armen und kämpfen für soziale Gerechtigkeit. In der Provinz KwaZulu-Natal betreiben sie eine Schule, einen Kindergarten und ein Kinderheim. Neben solchen großen Vorzeigeprojekten leisten sie aber auch weniger bekannte Dienste für die Menschen in ihrem Umfeld: Die wöchentliche Verteilung von Essenspaketen an Bedürftige gehört dazu, aber auch die private Unterstützung der Ausbildung von Kindern aus bedürftigen Familien. Sr. Teressa Zungu hat 2020 zudem ein Projekt ganz im Sinne der Ordensgründerin gestartet: Einmal pro Woche besucht sie weibliche Sträflinge, organisiert Workshops und steht für psychologische Gespräche bereit. Sie ist außerdem Teil eines Projekts, das Frauen in ländlichen Regionen zu Näherinnen und Schneiderinnen ausbildet. Das Engagement der südafrikanischen Schwestern trägt den Geist Antonia Werrs in eine Region, in der Unterstützung dringend gebraucht wird – und die angewiesen ist auf internationale Solidarität, auch aus Deutschland.

Doch nicht nur in Südafrika, auch mitten in Deutschland braucht es ein waches Auge für Ungerechtigkeiten. Manche Frauen erleben noch im Erwachsenenalter Ausgrenzung, Gewalt oder existentielle Not. Genau hier setzt der „Fachbereich Frauen“ an: Mit konkreten Hilfen und frauenspezifischen Angeboten an zwei Standorten in der Würzburger Innenstadt werden haftent­lassene, wohnungslose, psychisch kranke oder anderweitig krisengebeutelte Frauen ein Stück auf ihrem Lebensweg begleitet.

Im Antonia-Werr-Zentrum finden traumatisierte Mädchen und junge Frauen wieder Vertrauenspersonen, bauen neue Beziehungen auf und starten einen Neubeginn.
Im Antonia-Werr-Zentrum finden traumatisierte Mädchen und junge Frauen wieder Vertrauenspersonen, bauen neue Beziehungen auf und starten einen Neubeginn.

Der Dienst an der „unzerstörbaren Würde“ ist also kein historisches Ideal, sondern tägliche Praxis. Das gilt übrigens auch für die Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen und aus fernen Ländern nach Deutschland kommen. Die Aufnahme von Geflüchteten hat im Kloster Oberzell eine gewisse Tradition: Zu Kriegszeiten beherbergten die historischen Mauern nicht nur verletzte Soldaten, sondern auch Bombengeschädigte und Aussiedler. Dafür rückten die Schwestern zusammen. Von 1939 bis 1945 zum Beispiel wurden in Oberzell über 1.500 Menschen aufgenommen. Wenngleich die Anzahl heute um ein vielfaches kleiner ist, so ist die Haltung geblieben: die Menschen sollen sich sicher und willkommen fühlen, zur Ruhe kommen und neue Kraft schöpfen können. So finden geflüchtete Frauen – ob aus Syrien, Äthiopien oder Nigeria – ein Zuhause auf Zeit und Unterstützung im Kloster Oberzell. Seit 2022 leben zudem Frauen aus der Ukraine auf dem Gelände.

Verantwortung für die Zukunft

170 Jahre Oberzeller Franziskanerinnen bedeuten nicht nur Vergangenheit, sondern gleichzeitig eine gewisse Verantwortung für die Zukunft – gerade in einer Zeit, in der gesellschaftliche Spaltungen, Gewalt gegen Frauen und soziale Ungleichheit noch immer präsent sind. Die Geschichte von Antonia Werr und ihrer Gemeinschaft ist deshalb auch eine Einladung, genau hinzusehen. Und manchmal beginnt das genau dort, wo andere wegschauen würden: vor einem Gefängnis, mit einem Eimer Wasser in der Hand – und der Entscheidung, zu bleiben.

Mit konkreten Hilfen und frauenspezifischen Angeboten an zwei Standorten in der Würzburger Innenstadt werden haftentlassene, wohnungslose, psychisch kranke oder anderweitig krisengebeutelte Frauen ein Stück auf ihrem Lebensweg begleitet. Foto: Anja Mayer
Mit konkreten Hilfen und frauenspezifischen Angeboten an zwei Standorten in der Würzburger Innenstadt werden haftentlassene, wohnungslose, psychisch kranke oder anderweitig krisengebeutelte Frauen ein Stück auf ihrem Lebensweg begleitet. Foto: Anja Mayer

Hintergrund: Oberzeller ­Franziskanerinnen

Die Dienerinnen der heiligen Kindheit Jesu OSF, so der offizielle Name der Oberzeller Franziskanerinnen, ist ein katholischer Frauenorden mit Hauptsitz in Zell am Main nahe Würzburg. Als eine Kongregation päpstlichen Rechts erhält die Gemeinschaft keine Kirchensteuermittel. Sie finanzieren sich und ihr Engagement im religiösen und sozialen Bereich im Wesentlichen durch ihre Arbeit und durch Spenden. Seit 1855 waren hunderte Schwestern in der stationären und ambulanten Krankenpflege, in Kinder- und Mädchenheimen, in Einrichtungen der Jugendhilfe, in Kindergärten, schulischer Ausbildung, Seelsorge und Wirtschaftsführung tätig. Aktuell gehören zu den Oberzeller Franziskanerinnen rund 100 Schwestern, davon knapp 70 in Deutschland. Es gibt Niederlassungen und Einrichtungen in Südafrika und in den USA.

Ausführliche Infos im Internet unter www.oberzell.de

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