Streuobstparadies Franken
Streuobstwiesen sind wertvolle Lebensräume und vom Aussterben bedroht. Über ein unverzichtbares Element der fränkischen Kulturlandschaft, seine Raritäten und Retter.
Text + Fotos: Sabine Haubner
Winterhausens Mainufer wäre nur halb so schön ohne seine Streuobstwiesen. Sie erstrecken sich zu beiden Seiten einer malerischen Bucht im Landkreis Würzburg und sind wunderbare Wohlfühlorte. Im Frühling verführen Abertausende Blüten, Vogelgesang und ein betörender Duft, unter den alten Apfel-, Birn- und Zwetschgenbäumen zu wandeln. Einen heißen Sommernachmittag inmitten bunter Wildblumen im Schatten eines Obstbaums verdösen – paradiesisch. Auch im Herbst – der reinste Garten Eden. Rot leuchtende Äpfel verlocken und die alten Sorten beglücken mit einer Fülle einzigartiger Aromen – von süß-säuerlich über würzig bis hin zu ausgefallenen Noten von Marzipan und Rose. Streuobstwiesen schenken den Menschen ganz viel: Erholung, gesunden Genuß und Wertschöpfung. Darüber hinaus sind sie unendlich wertvoll für die Natur: als Hotspots der Biodiversität, aber auch als Klimaschützer, denn sie binden Kohlenstoffdioxid, betreiben Wasserschutz und filtern Feinstaubpartikel aus der Luft. Ein Schatz, der lange vernachlässigt und zerstört wurde. In Winterhausen haben Naturschützer seinen Wert erkannt. Rund 700 Apfel-, Birn- und Zwetschgenbäume, alles alte Sorten, stehen hier locker verteilt auf den gemeindlichen Wiesen. Früher wurden sie als Allmende von den Dorfbewohnern genutzt. In dieser Tradition steht noch die alljährliche Obstversteigerung im September.
Mehr Obstbäume als Menschen
Die meisten Bäume sind schon in die Jahre gekommen, vergreist oder ganz zusammengebrochen. Ihren Erhalt haben sich vor vier Jahren die Mitglieder der Bund Naturschutz Ortsgruppe Winterhausen-Sommerhausen zur Aufgabe gestellt. Zunächst ließen sie von einem Pomologen den Bestand kartieren, dabei kamen Raritäten wie der Kleine Herrenapfel oder die Brunserbirne zum Vorschein. Für Neupflanzungen verwendeten sie seltene lokale Sorten. Weitere Aktivitäten für den Erhalt und die Wertschätzung der Flurstücke sind: Aktionen für die Kinder, Schnittkurse, Bewässerung und Rückschnitt, Tips zur Ernte und Verwertung. Dieses Engagement wird im Rahmen des staatlichen Streuobstpaktes finanziell unterstützt und trägt viele Früchte. Im Verbund des Netzwerks Streuobst im Maindreieck wurde die Ortsgruppe 2024 mit dem 3. Platz des Bayerischen Biodiversitätspreises ausgezeichnet.
Früher waren Winterhausens Streuobstbestände noch beeindruckender: 13 505 Obstbäume wurden 1965 bei einer bayerischen Zählung verzeichnet. Der traditionell vom Weinbau lebende Ort war nach einer verheerenden Reblausplage auf den Anbau von Äpfeln, Birnen und Kirschen umgestiegen. Nach dem 2. Weltkrieg verlor dieser zunehmend an Bedeutung.
Streuobstwiesen prägten mehr als tausend Jahre die deutschen Landschaften. Vor allem in Franken waren sie beherrschendes Element. Fast jeder Ort trug seinen Streuobstgürtel wie einen schmückenden Spitzenkragen. In Unterfranken gab es sogar mehr Obstbäume als Einwohner. Aschaffenburg etwa wurde noch in den 60er Jahren von einem regelrechten Obstwald mit über 100 000 Obstbäumen eingefaßt. Die extensive Bewirtschaftungsform war auch auf Grenzertragsflächen möglich und brachte mehrfachen Nutzen: als Weide, zum Heumachen und als Obstlieferant.
Dann brachten die 60er Jahre den Niedergang durch intensivere Niederstamm-Kulturen und billigere Importe. Alte Streuobstwiesen wurden vernachlässigt oder fielen Flurbereinigung und Flächenfraß zum Opfer. In Franken mußte fast jeder zweite Obstbaum weichen. Und doch steht es heute noch besser da als andere Regionen Bayerns. Im Freistaat schrumpften die Streuobstbestände um etwa 70 Prozent.

Ökologisch wertvoll
Durch das Volksbegehren „Rettet die Bienen“ wurde die Politik in die Pflicht genommen, dem dramatischen Verlust artenreicher Lebensräume, also auch der Streuobstbestände, entgegenzusteuern. Im Oktober 2021 schloß die Bayerische Staatsregierung mit dem BUND Naturschutz und dem Landesbund für Vogelschutz einen 600 Millionen Euro umfassenden Pakt zur Rettung des Streuobstes, der unter anderem die Pflanzung von einer Million Bäumen bis 2035 vorsieht.
Trotzdem verliert Bayern noch jedes Jahr 100 000 Streuobstbäume. Das liegt auch an den langen Trockenperioden und am Niedergang alter Bestände mangels Pflege. Der Landschaftstyp ist vom Aussterben bedroht. Dramatisch, denn er bietet ein Mosaik von Kleinlebensräumen auf mehreren Etagen. Mehr als 5 000 Tier- und Pflanzenarten, davon viele stark gefährdet, finden in den naturnah bewirtschafteten Wiesen ihre Nische. Steinkauz und Buntspecht nisten in Astlöchern von Baumveteranen, der Wiedehopf stochert in der Krautschicht nach Larven und nachts macht die Große Hufeisennase Jagd auf Insekten. Die Wiesen werden erst ab Mitte Juni gemäht, damit Wiesensalbei, Heilziest, großer Wiesenknopf oder auch seltene Orchideen zur Samenreife gelangen können.
Unterfranken gilt als eine Bastion dieser bedrohten Paradiese. Insider schätzen seinen Anteil an Bayerns Gesamtbeständen auf 40 Prozent. Ein Hotspot ist die Rhön. Auf ihren schwierigen Hanglagen und in ihrem rauheren Klima ist der Obstanbau noch möglich. Beispielhaft ist Hausen (Lkr. Rhön-Grabfeld) mit seinem intakten, jahrhundertealten Streuobstgürtel. Passionierte Menschen engagieren sich für seinen Erhalt. Anfang der 90er Jahre standen rund 500 teilweise uralte Obstbäume auf diesen Wiesen, als Adam Zentgraf eines der ersten Projekte des Biosphärenreservats Rhön anstieß. Wenig später wurde Hausen zum Modelldorf in Sachen Streuobst. Die Gemeinde legte einen Sortengarten als genetisches Reservoir an. 1999 kamen ein Lehrpfad und rund 1 000 neue Bäume dazu. Zu der Zeit eine bemerkenswerte Initiative mit großer Wirkung, betont Julia Rösch vom Biosphärenreservat Rhön, Bereich nachhaltige Entwicklung. „Es ging und geht auch um viele andere Aktionen zum Streuobst, etwa den jährlichen Apfelmarkt, die Edelreiserbörse, Baumpatenschaften und mehr, und zwar zu einer Zeit, wo das noch nicht so hip war.“

Hip trotz Arbeit
Das hat sich inzwischen geändert. Julia Rösch beobachtet seit rund fünf Jahren eine Renaissance der Streuobstwiesen. „Es gibt viele Gründe dafür“, etwa die Rückbesinnung auf alte Traditionen. „Vieles, was eine Zeit lang uncool war, ist wieder interessant.“ Dazu gehört auch die Streuobstwiese der Großeltern. Und diese Begeisterung braucht es auch, denn eine Streuobstwiese ist Kulturgut und muß gepflegt werden. Das bedeutet Arbeit. Die Wiese muß gemäht werden, die Obstbäume brauchen ihren regelmäßigen, fachgerechten Schnitt, von Erntezeit und Vermarktung ganz zu schweigen. „Streuobstanbau ist immer ideell, davon kann man nicht reich werden“, betont Antje Schwanke, Geschäftsführerin der Rhöner Apfelinitiative. Der Verein mit Sitz in Seiferts (Lkr. Fulda) stemmt sich seit 1995 gegen den Untergang der Rhöner Äpfel. Er berät zu Förderungen, bringt Experten zusammen, vermarktet das Obst zu fairen Preisen. Verarbeitet wird es zu Apfelsaft in kleinen lokalen Keltereien und zu anderen kreativen Produkten wie dem Apfelsherry oder der Apfelbratwurst.
Zitronenapfel und Rote Walze
Alte Streuobstwiesen sind auch wertvolle Reservoirs alter Apfel-sorten. Bei einer Sortenkartierung in Hausen entdeckten Pomologen seltene alte und lokale Spezialsorten. Elektrisiert durchforsteten sie die ganze Rhön und bestimmten rund 500 Sorten. Adam Zehntgraf vom Arbeitskreis Streuobst der Gemeinde ist eine Koryphäe. Spontan fallen ihm so schillernder Vertreter wie der „Hausener Zitronenapfel“ ein, eine unbekannte Sorte, die von den Pomologen vor Ort getauft wurde. Oder die „Rote Walze“, die in Deutschland als ausgestorben galt. „Bei uns wird er Bloatzapfel genannt, weil ihn die Bäcker gerne verwendet haben“, so Zehntgraf. Er hat das überlieferte Wissen um die Pflege der Obstbäume von älteren Mitbürgern erfragt und vor dem Vergessen bewahrt. Zusätzlich viel gelesen, Erfahrungen gesammelt und mit seinen Initiativen wie dem beliebten Apfelmarkt die Wertschätzung des Streuobstes gefördert. So ist auch sein Ruhm gewachsen. „Man nennt mich Apfelpapst.“ Von solchen Anwälten hängt das Überleben der Streuobstwiesen ab.