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Paraphotographie oder der Flaneur im Hausarrest

Akimos „Entdeckungen in alten Photobüchern“ in der Galerie Professorium im Malerfürstentum Neu-Wredanien in Würzburg.

Text: Wolf-Dietrich Weissbach
Paraphotographie von Akimo

Beim Abschreiten, so von Bild zu Bild, wird es schnell deutlich: Hier hängen die Trouvaillen eines Flaneurs. Nicht eines Flaneurs wie Marcel Proust, Charles Baudelaire, oder jenen Hominiden, die in den 1840er Jahren ihre Schildkröten in den Pariser Passagen spazieren führten; eher eine technisch-informierte Mutation, ein Flaneur auf dem Fahrrad, wobei mit dem Rad eben gerade keine Flanerie, sondern eine Weltreise absolviert worden wäre. Es handelt sich wohl doch um eine andere, vielleicht eine gedachte Art von Müßiggänger, egal! Und es sind auch keine richtigen Fundstücke; eher sind es kuriose Schnäppchen aus dem Antiquariat Osthoff, Preziosen vom Flohmarkt. Es sind mitunter lichtrandige, bestoßene Fundstücke 2. Ordnung. Impressionen, Vexierbilder, Pareidolien, Spiegelungen, Labyrinthe, Feerien, Träume, Phantasmagorien. Zuweilen den einst so beliebten Kippbildern ähnlich: Nur wer die verschiedenen Layer in einem zu erkennen vermag, sieht sie richtig.

Akimo hat aus einer Laune ein Kunstprojekt gemacht. Keine, wenig Zeit, Lust und Gelegenheit zum Flanieren, vergnügt er sich mit seiner anderen Leidenschaft (es ist fast die gleiche): das Sammeln, von Büchern, Bildbänden etwa und „flaniert“ in ihnen – übrigens bereits seit 2013. Ein Flaneur im Interieur, im Homeoffice, neuerdings im Hausarrest? Nicht immer, aber immer wieder. Er betrachtet seine Bildbände dabei nicht wie Photoalben, zumal er ohnehin in manchen Städten, die in den Folianten von sich erzählen, selbst noch nicht war; zumindest nicht so nah, um all die Straßenzüge, Gebäude, Plätze wiederzuerkennen. Gleichwohl geht es in seinen Bildern um eine Form von Erinnern, um aktives Eingedenken. Nicht also müßige Kontemplation – er arbeitet (!) mit seinen Photobänden; erforscht New York, Paris, London, Rom, Danzig u.a. Er selbst nennt es Forschen. Er erkundet, er sucht den ihm gemäßen Erfahrungsraum. Irgendwie das, was die Welt, die Medien uns allen zunehmend verschließen.

„Erfahrungsraum“ ist das so paradoxe wie treffende Leitwort; abgehalten von einem wirklichen, kreiert er einen in Büchern vermittelten, indem er die Seiten seiner Bildbände verdreht, oft mit einer gehörigen Portion Humor würzt und durchleuchtet. Und dieses Durchleuchtete (wie sind jetzt Sie nur auf Röntgen gekommen?) photographiert er abermals. Es sind also Photographien von mal zufällig, mal berechnend übereinander gehaltenen, gedruckten, papierfaserigen Abbildungen, zumeist sind es historischen Aufnahmen u.a. von Nico Jesse „Sehnsucht nach Paris“ / 1960; „mnemotechnische Behelfe“ aus einer längst nicht mehr vorhandenen Welt. Beim Abschreiten von Bild zu Bild erahnt man vermutlich auch den von Paul Klee und Walter Benjamin erfundenen „Engel der Geschichte“, der bald mit aufgespannten Flügeln, weit aufgerissenen Augen, der Vergangenheit zugewandt, die eine Katastrophe nach der anderen aufhäuft, den Sturm auslöst, der ihn vom Paradiese her, unaufhaltsam in die Zukunft fegt, flutet. Es ist der nämliche Geist, der von Bild zu Bild synchron mitläuft. (Manchmal versteckt er sich, aber er ist immer da.)

Dialektische Bilder

Abseits eines atmenden und pulsierenden Erfahrungsraums träumt sich Akimo kindlich und spielerisch einen neuen Erfahrungsraum aus den Bildern einer inzwischen kariösen, wenn nicht schon destruenten Welt, die so, geschichtet, verzaubert, transzendent, ohnehin nie vorhanden war, aber wohl doch gelebt hat. Hätte nun Mark Zuckerberg die Vorsilbe „Meta“ nicht kontaminiert (denken Sie an „Arsen und Spitzenhäubchen“; wobei von Abby und Martha Brewster vergiftet, wenigstens Stil hätte), könnte man Akimos Verfahren als „Meta-Photographie“ bezeichnen – es ist übrigens der einzige Schönheitsfehler dieser Ausstellung, daß die Arbeiten digital, sagen wir: gefeatured wurden. Vermutlich aber trifft es der Begriff „Paraphotographie“ sowieso besser. Und man darf dieser Art von Photographie sogar eine eigene Erkenntnisqualität bescheinigen, die über eine Bibliomantie hinausgeht. Natürlich ist auch die Paraphotographie Photographie und so mit Roland Barthes eine „Botschaft ohne Code“. Aber es ist eine (späte) Art surrealistischer Photographie, die sich wechselseitig selbst codiert; sie erzeugt zweideutige, dialektische Bilder; Bilder, die strenggenommen erst im Akt der Deutung „entstehen“.  Es handelt sich nicht um landläufige Fotomontagen, eher um Schockmontagen insofern Perspektiven, Gestaltwissen, Wahrnehmungs- und Distanzerwartungen einfach mißachtet werden. Doppelbelichtungen? Hm, es wird letztgültig nur einmal belichtet! Die Paraphotographie ist ein Verfahren, das die Gegenstände ins Bild setzt, um Erfahrungen unter den Bedingungen ihrer Unmöglichkeit zu erzeugen. Allerdings muß man überhaupt erfahren wollen.

Und es ist ein künstlerisches Verfahren, das auf der Metaebene dem bildhaften Ergebnis zunächst einen Gebrauchswert verleiht, etwa indem es bewährte Postkartenmotive aufgreift und sich – insofern Kitsch ja die Differenz zwischen Kunst und Gebrauchsgegenstand unterläuft – damit in der Sphäre des Kitsches zu verlaufen scheint; im selben Atemzug aber, diesen Befund erfolgreich zurückweist. Um im Bild zu bleiben: Akimos überarbeitete Postkarte beißt, sticht, kritisiert und ja: belehrt sogar zuweilen. Das gelingt der zeitgenössischen Kunst bzw. dem, was als Kunst firmiert, inzwischen immer seltener.

Wie auch immer: So mag noch für Egon Friedell der Eiffelturm in seiner ganzen Pracht „riesenhafter Nippes“ gewesen sein. Akimos Arbeit „entschlüsselt“ ihn in seinem Gewirr aus Stahlträgern und waghalsigen Konstruktionen als Allegorie auf das drohende Ende der Kunst.

Die Paraphotographie kann die Kunst natürlich nicht mehr retten. Bereits im 19. Jahrhundert hatten sich, wie Walter Benjamin ausführt, wichtige Darstellungsformen von der Kunst gelöst. Die Architektur als Ingenieurswissenschaft, die Naturwiedergabe als Panoramen und schließlich als Photographie. (Daguerre hatte als baldiger Photopionier im Paris des 19. Jh. ein erfolgreiches Panorama, das Cabinet des Mirages im Museé Grévin betrieben.)

Die Entkoppelung von der Kunst ist, wie man bei Benjamin in dem nie abgeschlossenen Passagen-Werk nachlesen kann, eine Folge davon, daß die Kunst der Entwicklung der Technik nicht mehr hinterherkam, nicht mehr hinterherkommt und damit mehr und mehr in ein gesellschaftliches Abseits gerät. Was jedoch Benjamin, wie Wolfgang Eilenberger (Zeit der Zauberer. Stuttgart 2018) es ausdrückt, „im ewigen Dämmerlicht künstlich beleuchteter Wunderkammern des Warenkapitalismus“ (eben den Pariser Passagen) für die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts diagnostizierte, verzögerte sich im 20. Jahrhundert vermutlich durch die Weltkriege etwas. Daß die Kunst sich noch vor 70 oder 80 Jahren im gesellschaftlichen Abseits befunden habe, wird man kaum ohne skurrile Verrenkungen behaupten können.

Der Richtweg ins Banale

Anders heute, im 21. Jahrhundert. Abgesehen von spektakulären Auktionsergebnissen des Kunstmarkts oder datasexuellen Proliferationen (NFT) gibt es nur noch selten Momente, in denen eine wie auch immer geartete Kunst einen notwendigen, gesellschaftlichen Diskurs anstößt. Eine SZ-kompatible, anthropomorphe Neonröhre, die nachts auf der Wartebank einer Bushaltestelle leuchtet, dürfte selbst bei oberstädtischen Kulturreferenten der CO2-Bilanz wegen keine Chance haben.

Und wo sie, die Kunst, sich einmal echt politisch gibt, fällt es schwer, einen Ai WeiWei ernst zu nehmen. Selbst bei der deutsch-japanischen Welt-Künstlerin Hito Steyerl, die in geradezu furchterregender Geisteskälte die moderne Kunst in den gewinnorientierten Algorithmen der Digitalkonzerne verortet, muß man im gleichen Atemzug ihre künstlerische Ratlosigkeit (um nicht von Einfallslosigkeit zu sprechen) konstatieren, wenn sich ihre Arbeiten nicht wirklich von den Elaboraten der Kunstsoftware „Wombo dream“ unterscheiden. Na gut: Aber wie Steyerl ständig aktualisierte Pandemiedaten nutzt, um Avatare tanzen zu lassen, hatte vor Jahren schon die britische Künstlerin Anna Ridler in dem Werk „Mosaic virus“ mittels Kurs-updates einer Kryptowährung Tulpenblätter wachsen lassen. Es scheint: Wo immer moderne Kunst bislang von moderner Technik/KI ausformuliert wird, weist ihr Richtweg stets ins Banale (oder überhaupt ins Fragwürdige). Künstler und Kunstszene gehen inzwischen allerorts den Agenten der Technik auf den Leim. Sie merken nicht, daß sie mit ihren Versuchen der technischen Entwicklung nachzukommen, kläglich scheitern, insofern sie in externalisierten Erfahrungsräumen, in Online-Ausstellungen, in denen im Cyberraum ihnen ihre Figürchen ums Hirn schwirren, oder digital animierte (wohnzimmergerecht geschrumpfte) Kunstpräsentationen höchstselbst ihre Kunst, ihre Arbeit ohne klare Sinn-Orientierung nicht nur verkitschen und banalisieren, sondern vor Erfahrungen und damit Sinnstiftung eben gerade abschotten. Es gelingt ihnen (in der Provinz gleich gar) nicht, etwa aus einer Position eigener, intellektueller Überlegenheit, „die technischen Verfahrensweisen mannigfach zu umspielen“ – etwas, was Benjamin dem Film noch zutraute und was, wie man inzwischen weiß, auch nicht eintraf. „Die Technik entläuft mit der ästhetisch gelungenen, zumeist begeistert aufgenommenen Aneignung (Instagram, VR) zugleich der sozialen und politischen Kontrolle und kann damit ungehindert ihre Destruktivität entfalten.“ Sei es indem durch die Vielzahl isolierter Nachrichten, die täglich in digitalen Kanälen und auf das Wesentliche (120 Zeichen) komprimiert, gerade die Integration, der vor allem für das menschliche Zusammenleben entscheidenden Bedeutungen in den „Erfahrungsschatz“ jedes einzelnen von uns verhindert wird. Sei es, daß wir selbst freiwillig und mit Begeisterung, unseren Erfahrungsraum in eine virtuelle Welt auslagern und gegen die wirkliche Welt abdichten. Was uns in den sozialen Medien, in einer augmented reality, einer virtual reality, einem Metaversum als Bewußtseinserweiterung gepriesen wird, schneidet uns defacto nicht nur von unserer unmittelbaren Umwelt ab, seien es bloß Gerüche, Geräusche, Störungen, Berührungen, aber auch Erinnerungen, sogar Irrtümern und Denkfehlern, natürlich unserem eigenen Wissen, Traditionen, familiäre, ganzheitliche zwischenmenschliche Beziehungen kurzum von all dem, was uns, unser Denken und Handeln in jedem Augenblick und in meist winzigen, nicht bewußten Einheiten zumindest beeinflußt. Die augmented reality verdichtet sich tendenziell (auf Dauer) eher in eine deprivated reality. (Auf Guantanomo wurde mit Deprivation gefoltert.)

Grundlagenkultur

Auf diese Situation muß die Kunst – will sie noch eine gesellschaftliche Rolle spielen – eine Antwort finden. Wie Hito Steyerl in einem Spiegel-Interview (30.11.2021) betont, bedarf es für unsere Gesellschaft auch einer Grundlagenkultur analog einer Grundlagenforschung.

In diese Richtung weisen die Arbeiten von Akimo. Er schafft Erfahrungsräume, Erfahrungsraum, den es anders gar nicht gäbe, der aber stets mit den eigenen Kontexten, die zugleich die Kontexte der durchleuchteten Bilder sind, verbunden bleibt und damit nicht im luftleeren Raum oder sagen wir im Cyberspace schwebt. Einerseits also unterläuft das paraphotographische Ergebnis die Differenz zwischen einer ohnehin bedrohten Kunst und dem Gebrauchsgegenstand. Es erzeugt Kitsch, was man mit Verweis auf Hermann Broch natürlich einfach hinnehmen könnte, weil keine Kunst ohne einen Tropfen Kitsch auskomme. Andererseits ist dies auch Teil einer Problemlösungsstrategie. Das paraphotographische Ergebnis widersetzt sich mit Kitsch, Sentimentalität, mit einer Traumwelt oder auch nur einer Kinderperspektive genau den digitalen oben angedeuteten Verwüstungen, mit denen sich die Künstler und die Kulturszene überhaupt gegenwärtig herumschlagen müssen.

Die Paraphotographie kann natürlich nicht die Welt retten, aber in diesem, konkreten Fall (Ausstellung) wirkt sie wie ein Antidoton, kann uns eventuell helfen, verlorenes Terrain zurückzuerobern. Mögliche Problemlösungsstrategien scheinen tatsächlich nur mehr die Arbeit auf Metaebenen zu bieten. Allerdings könnte es sein, daß eine solche Metaebene (hier eben Paraphotographie genannt) immer nur kurzfristig funktioniert und schnell für die Künstler Vita von einer anderen Metaebene abgelöst werden müßte – ohne sagen zu können, welche das sein könnte.

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